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Gebot der Stunde

Es ist nur ein Gedankenexperiment, das ich manchmal im Religionsun­terricht mit meinen Schülerinnen und Schülern durchspiele. „Stellt euch vor, ihr wärt der Alleinherrscher eines Landes oder die Chefin der Partei, die nicht verlieren kann. Und nun formuliert bitte eure eigenen zehn Ge­bote. Schreibt zehn Regeln auf, im Sinne eures Machtanspruchs, ange­lehnt an die Zehn Gebote der Bibel. Verdreht die Bibel in ihr Gegenteil und schaut, was für euch dabei herauskommt.“

Zuerst reagieren die Jugendlichen zaghaft, aber dann erkennen sie die Macht, die sie plötzlich in den Händen halten. Zum Beispiel beim Bil­derverbot. Da heißt es plötzlich: „Du sollst mein Bildnis aufstellen, in je­dem öffentlichen Gebäude meines Landes, auf jedem Platz, und alle sol­len sich davor verneigen.“ Oder beim Verbot zu lügen: „Du sollst für wahr halten, was meine Medien als Wahrheit verkün­den, und für falsche Nachricht, was ich zur falschen Nachricht erklärt habe.“

Am Ende des Experiments stehen zehn Grundsätze eines Landes, in dem niemand aus der Klasse leben möchte. Aber, und das erschreckt: Es sind keine weltfremden Re­geln. Zu jedem noch so dunklen Gebot findet sich ein Beispiel der Weltgeschichte, in dem Menschen wirklich so leben mussten, ja bis hinein in unsere Gegenwart: unfrei, ohne soziale Absiche­rung, ohne ein Mindest­maß an Gerechtigkeit und Sicherheit. Ohne Mög­lichkeit zur Mitbestimmung.

Noch drei Tage bis zur Bundestagswahl. In der Bibel gibt es keine Verse über die Demokratie. Die Bibel stammt aus Zeiten, da lag die Demokratie noch in der Wiege. Es herrschten Könige und Kaiser.

Aber die Bibel weiß von der Freiheit zu erzählen, von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, von sozialer Verantwortung und dem Schutz des Eigen­tums, vom Frieden und vom Recht, das gesprochen werden soll.

Damals waren das meist Utopien. Heute sind es aber Dinge, die meine Schülerinnen und Schüler leben und genießen dürfen. Nicht perfekt, aber doch in einem Maße wie nur wenige Menschen sonst auf unserer Erde.

Warum? Weil wir in einem Land leben, in dem Parteien Wahlen auch verlieren können. In einem Land, das uns eine echte Wahl lässt.

Damit die dunklen Gesetze meines Experiments das bleiben, was sie sind, nämlich Gott sei Dank nur weit entfernte Gedanken, braucht es eine starke Demokratie. Für mich daher ein Geschenk und zugleich ein Gebot der Stunde: am Sonntag wählen gehen.

Sie können das Video zum Beitrag unter der folgenden Adresse anschauen:

https://www.sr-mediathek.de/index.php?seite=7&id=107438