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Farben für den Winter

Früher war ja vieles anders. Manche sagen sogar, dass früher vieles besser gewesen sein soll. Aber jetzt im Oktober, da die Tage langsam wieder dunkler werden. Stiller werden. Und ja, sogar schon wieder etwas grauer werden, da bin ich schon froh drum, dass Heizen heute per Knopfdruck geht und es Vorräte einfach im Supermarkt gibt.

Früher war das anders. Da mussten Menschen den ganzen Sommer über alles für den Winter vorbereiten, damit sie dann nicht plötzlich das Nachsehen hatten. Und nicht nur den Menschen ging es so – auch den Tieren. Nur die kleine Maus Frederick hat es ganz anders gemacht. Zumindest laut einer Geschichte von Leo Lionni.

Denn während aller anderen Mäuse fleißig Korn und Mais und allerlei Gutes für den Winter gesammelt haben, hat der kleine Frederick einfach nur so dagesessen, geträumt, in der Sonne gelegen und gefaulenzt.

Was haben die anderen Mäuse wohl gelacht. Was haben die anderen Mäuse wohl gedacht! „Dieser kleine Frederick, der ist ja zu gar nichts nütze.“ Oder: „Den Ernst des Lebens, den hat dieser Faulpelz nicht erkannt“, oder vielleicht ja auch: „Na, der wird schon noch sehen, wo er bleibt“.

Als dann der Winter kam, waren die Vorratskammern – Gott sei Dank – gut gefüllt. Die Tage wurden dunkler, aber das Essen hat gereicht. Die Tage wurden stiller, aber Korn war genug da. Die Tage wurden grauer, aber Hunger musste keine der Mäuse leiden. Nur wirklich glücklich waren die Mäuse nicht. Mit vollen Bäuchen und trüben Gedanken saßen sie allesamt ganz traurig in ihrem Mäuseloch.

Aber Frederick, der Nichtsnutz, der Faulpelz, der Tunnichtgut, der hatte vorgesorgt. Anders als die anderen Mäuse hatte er kein Korn, sondern Licht gesammelt. All die wunderschönen warmen Sonnenstrahlen. Die hellen Tage voller Bienensummen, warmem Wind, die so wunderbar nach Kinderlachen klingen und nach Sonnencreme duften.

Und Farben hat er gesammelt. Das frische Grün der Blätter, die sich im Wind wiegen. Das strahlende Rot der Mohnblumen. Das leuchtende Blau des Himmels. Und das Morgenrot endloser Nächte voller Gelächter, glühender Grillkohlen und Gemeinschaft.

Und Worte hat er gesammelt. All die Geschichten, die das Leben schreibt und die man sich gar nicht ausdenken kann. All die Abenteuer von denen Leute noch Jahre lang mit leuchtenden Augen erzählen.

Frederick hat den ganzen Sommer über das gesammelt, was man an grauen und trübsinnigen Tagen vielleicht sogar noch dringender braucht als gut gefüllte Vorratskammern und Bäuche. Und er hat all das geteilt. Das Licht. Die Farben. Und die Geschichten. Und mit einem Mal hatten die Mäuse nicht nur genug zu essen – sondern waren auch wieder glücklich. Den ganzen Winter lang.

Früher war ja vieles anders. Manche sagen sogar, dass früher vieles besser gewesen sein soll. Aber ich freue mich wirklich darüber, dass meine Wohnung auf Knopfdruck warm wird und ich die Vorräte einfach im Supermarkt kaufen kann. Denn das gibt mir Zeit und Kraft für all die schönen Dinge in meinen Leben.

Lieber Hörer*innen – Wie schauen denn eigentlich Ihre Kornkammern nach diesem Sommer aus? Haben Sie für den Winter vorgesorgt? Bei all den Sorgen um Zukunft und Geld vergesse ich selbst oft, dass es sogar noch Wichtigeres gibt als den vollen Bauch und die warme Wohnung. Auch wenn das ganz sicher nicht unwichtig ist.

Aber haben Sie sich auch genug Zeit genommen, alles andere zu sammeln? All die Lichtstrahlen. All die guten Gedanken. Und die Geschichten, die man sich selbst gar nicht ausdenken kann?

Wenn Sie an die letzten Wochen und Monate zurückdenken – was ist es, dass Ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubert? Haben Sie etwas erlebt, für das Sie dankbar sind? Und welche unglaublichen Geschichten hat Ihr Leben geschrieben?

Ich jedenfalls habe festgestellt: Ich hab so viel mehr gesammelt, als ich selbst im ersten Moment vielleicht vermute. So viele Farben. So viele Geschichten. So viel Schönes. Und dafür bin ich wirklich dankbar.

Schauen Sie sich um – vielleicht ist da irgendwo ein Frederick, der Licht, Farben und Geschichten mit Ihnen teilen kann, wenn die Tage nun wieder dunkler, stiller und grauer werden. Und wenn Sie das alles reichlich selbst gesammelt haben: Teilen Sie das Gute. Denn das braucht’s im Winter genauso wie die warme Wohnung und den vollen Kühlschrank.