Etikettierung – nein Danke!

„Ich will ein Gesicht sehen – und kein Etikett.“ Dieser Satz geht mir seit Tagen durch den Kopf. Es geht um Dr. Frauke Brosius-Gersdorf. Eine Professorin. Eine Richterin. Eine Frau mit Haltung. Sie soll ans Bundesverfassungsgericht gewählt werden. Und plötzlich ist sie Zielscheibe einer Kampagne. Nicht, weil sie irgendetwas Illegales getan hätte. Sondern: Weil sie sich differenziert zum Thema Schwangerschaftsabbruch geäußert hat. Eigentlich passt sie gar nicht in irgendein Lager. Und doch wird ihr ein Etikett aufgeklebt.
Das macht was mit mir. Ich sehe ja selbst oft nur Überschriften. Und viele der Artikel – die sind hinter Paywalls. Ich lese die griffige Überschrift, aber ich erfahre selten, was wirklich dahintersteht. Typisch für unsere Zeit. Und dann höre ich von Erzbischof Herwig Gössl. Der hatte Brosius-Gersdorf erst heftig kritisiert. Und dann – nach einem persönlichen Gespräch – gesagt: „Ich war falsch informiert.“ Das finde ich stark. Nicht schwach. Nicht wankelmütig. Stark zu sagen: „Ich habe dazugelernt. Weil ich der Person begegnet bin.“
Christsein bedeutet für mich: In jedem Gegenüber einen Funken Gottes zu erwarten. Ganz egal wer sie ist, ganz egal was er tut oder sagt. Jesus hat Menschen angeschaut – nicht das Etikett, was ihnen jemand aufgeklebt hat. Er hat zugehört – selbst denen, die niemand hören wollte.
Verstehen Sie mich richtig: Ich will nicht alles abnicken oder jeden gut finden. Im Gegenteil: Ich glaube, ich muss mich manchmal ganz klar positionieren: für Menschenwürde, für Menschenrechte, für Nächstenliebe – Aber ich will mich nicht daran gewöhnen, Menschen auf eine Schlagzeile zu reduzieren. Auf ein Etikett, das ihnen jemand aus Eigeninteresse aufklebt.
Vielleicht ist das ein Anfang: Statt vorschnell zu urteilen – erstmal nachfragen. Statt sich aufzuregen – erstmal zuhören. Ich will ein Gesicht sehen – und kein Etikett, das sich schnell verteufeln lässt. Manche denken einfach anders. Und das ist sogar gut so. Denn es bringt mich zum Nachdenken. In einer Demokratie darf, ja muss es Vielfalt geben – solange wir einander als Menschen begegnen. Wer nur auf das Etikett schaut, übersieht das Wesentliche. Und das Wesentliche – ist ein Mensch mit seiner Geschichte.
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