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Es ist ein Ros entsprungen. 2. Weihnachtstag

Musik 1:         Es ist ein Ros entsprungen

Peter Sorg: Begrüßung und Einleitung

Guten Morgen, liebe Hörerinnen und Hörer! Ich begrüße Sie zu dieser Morgenfeier am zweiten Weihnachtstag. Musikalisch begleitet Sie das Manuel Krass Quintett. „Es ist ein Ros entsprungen“ haben wir gerade gehört, das altbekannte Weihnachtslied. Es nimmt Bezug auf eine Bibelstelle, wo von einem „Reis“ die Rede ist, einem Pflanzentrieb. Daraus hat der Lieddichter ein „Ros“ gemacht, eine Rose, eine „Blümelein“.

„Es ist ein Ros entsprungen“ – das Bild, das dahinter steht, kennt jeder: Ein verheerender Sturm, ein Waldbrand hat gewütet. Alle Bäume sind abgeknickt oder verbrannt. Schwarz, Asche, grau und öd, wo vorher blühendes Leben war. Alles ist zerstört. Eine Katastrophe. Nur Baumstümpfe sind übriggeblieben, totes Holz. Und dann, ein Jahr später, reckt sich ein Reis, entspringt ein kleiner Zweig mit neuen grünen Blättern dem toten Holz, neues Leben aus alter Asche.

Musik 2:         Es ist ein Ros entsprungen

Peter Sorg: Überleitung

Es ist ein Ros entsprungen – dieses Bild ist uralt. Es wurde in den ältesten Teilen der Bibel benutzt für Hoffnung auch noch nach der schlimmsten Niederlage. Im Neuen Testament soll mit diesem Hoffnungsbild verdeutlicht werden, was mit der Geburt Jesu geschehen ist. Bärbel Jenner liest die Prophezeiung des Jesaja, die Christinnen und Christen auf Jesus deuten:

Bärbel Jenner: Bibeltext

1 Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.

2 Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN.

3 Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören,

4 sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten.

5 Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften.

6 Da werden die Wölfe bei den Lämmern wohnen und die Panther bei den Böcken lagern. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben.

7 Kühe und Bären werden zusammen weiden, dass ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh fressen wie die Rinder.

8 Und ein Säugling wird spielen am Loch der Otter, und ein entwöhntes Kind wird seine Hand stecken in die Höhle der Natter.

9 Man wird nirgends Sünde tun noch freveln auf meinem ganzen heiligen Berge; denn das Land wird voll Erkenntnis des HERRN sein, wie Wasser das Meer bedeckt.

Musik 3: Joy oft the world

Peter Sorg: Gedanken 1

Was ist das für ein märchenhaftes Bild. Diese grandiose Utopie des Propheten Jesaja gehört zu den bekanntesten Texten der Bibel. Die eindrücklichen Bilder, die dort gewählt werden, sind sprichwörtlich geworden: Wölfe wohnen bei den Lämmern, Kinder spielen an Schlangenlöchern, Löwen fressen Stroh. Ein Bild, das zum märchenhaften Anfang der Geschichte Jesu passt: das Kind in der Krippe, die Engel auf dem Feld, die Weisen aus dem Morgenland. Beides Hoffnungsbilder im Angesicht der Katastrophen dieser Welt.

Am Heiligabend lassen Menschen sich bezaubern, von den raunenden Prophezeiungen eines Jesaja, von der Göttlichkeit des Kindes in Windeln, von der rührenden Botschaft der Engel: „Euch ist heute der Heiland geboren!“

Tragen diese Bilder zwei Tage später noch? Oder schließe ich sie weg bis nächstes Jahr? Schalte ich meinen kühlen Verstand ein und hake die Rührung der Weihnacht ab als einen Ausrutscher? Oder kann mich diese ungeheuerliche Botschaft vom Kind in der Krippe, vom menschgewordenen Gott begleiten? Mich durch meine ganz persönlichen Katastrophen leiten? Mitten in dieser kriegerischen Welt?

Musik 4:         Joy oft the world

Peter Sorg: Gedanken 2

Die Utopie des Jesaja lässt sich schnell beiseiteschieben. Ein Märchen. Schön – aber eine Illusion. Die Löwen und Schlangen lauern, wenn der Weihnachtsurlaub vorbei ist, wieder überall und wollen mich verschlingen. Oder wenigstens beißen. Ich muss mich wappnen, aber nicht mit Treue und Gerechtigkeit. Nein, das Leben ist hart – und ungerecht. Und so wird es immer sein. An Weihnachten schwiegen einst die Waffen an den Fronten, aber dann… Heutzutage wird auch am Heiligabend geschossen oder Bomben gezündet. Sogar mit Ansage. Russland lehnt den Vorschlag, über Weihnachten in der Ukraine die Waffen schweigen zu lassen, kühl ab.

Nein, das Ziel ist mit Weihnachten nicht erreicht. Aber es gibt diese Verheißung, dieses verheißungsvolle Versprechen: das Heil ist da. Und es liegt im Menschen. In seiner Gottesebenbildlichkeit. Will sagen, dass etwas von Gott in uns allen schlummert. Nicht irgendwo oben, hinter den Sternen. Im erbärmlich armen Kind in der Krippe schaut dich Gott an – und du siehst gleichzeitig in einen Spiegel, ein dunkles Bild, aber ein verheißungsvolles. Die Verheißung: das alles hat ein Ziel. Eine Schöpfung voller Frieden, an der wir mitwirken können. Auch wir – Kinder Gottes!

Die Weihnachtsgeschichte hat viele Facetten, auch deshalb, weil so viele Menschen über die Jahrhunderte ihre Erfahrungen, ihre Gefühle, ihre Deutungen in sie eingelagert haben. Die Hirten, die die ersten an der Krippe waren: damals geächtete Außenseiter der Gesellschaft. Was hat es für sie bedeutet, diesen menschgewordenen Gott zu sehen? Diese fleischgewordene Utopie? Die ihnen körperlich nahe kam? Auch für die Hirten wurde nicht plötzlich Frieden, aber vielleicht wechselte die Perspektive, mit der sie auf ihr kleines, ärmliches Leben blickten. Diesen Außenseitern der menschlichen Gesellschaft wurde klar: wir sind nicht außen vor, sondern mitten drin. Wir sind Insider – Menschen, die die Geheimnisse Gottes erkennen können, und wir sind die ersten, die dies erkennen dürfen. Gott kommt zu uns, uns Parias.

Musik 5:         Hört der Engel helle Lieder

PS: Gedanken 3

In den utopischen Bildern des Propheten Jesaja sind es die bedrohlichsten Tiere im Alltag der Menschen, die zu den Gefährdetsten, Hilflosesten gehen und mit ihnen den Frieden leben – der Wolf zum Lamm, der Löwe zum Rind, der Naatter zum Säugling. Alles passiert, weil Gott zum Greifen nah bei den Menschen ankommt. Ein König, der ganz anders ist, als die Weisen Männer dachten. Kein gewaltig-machtvoller, sondern einer, dessen göttliche Kraft sich gerade in seiner Hilflosigkeit und Schwäche unbezwingbar leuchtet.

Diese Ankunft ist nicht nur nett. Die Ankunft eines neuen Königs muss die erschrecken, die aktuell die Macht haben. Herodes wird provoziert. Das Friedensreich Gottes trifft nicht nur auf Gegenliebe bei den Menschen. Es wird auch Hass provoziert, ein grauenvoller Kindermord folgt in der Geschichte der Geburt dieses Gotteskindes – noch so ein überwältigendes Bild, diesmal der Grausamkeit.

Und so fordert diese Geschichte auf, sich zu positionieren. Wo stehe ich? Beim Kind in der Krippe? Oder lasse ich mir die Hoffnung wieder rauben und beteilige mich am grausamen Spiel der Welt, die den heilsamen Friedenskönig nicht annehmen will? Wo bin ich? An der Seite meiner erbärmlich lebenden, sterbenden, leidenden Brüder und Schwestern? Oder pflege ich weiter meine giftigen Feindschaften und meine tödlichen Fressgewohnheiten? Im wörtlichen wie im übertragenen Sinn?

Menschen haben sich an die Krippe gestellt, zum Kind gewordenen Gott. Immer schon. Und es war ihr Schade nicht, mitten in einer auf den ersten Blick hoffnungslosen, verödeten, umgeknickten Welt auf den kleinen, grünen Zweig, die Rose, das verheißungsvolle Blümelein zu setzen. Und den Schwachen aufzuhelfen, dem Ohnmächtigen Gerechtigkeit zu geben, das Böse mit Gutem zu überwinden.

Musik 6:         Macht hoch die Tür