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Erntedank des Lebens

Ein dicht gedrängtes Wochenende: Heute feiert unser Land zum 25. Mal den Tag der deutschen Einheit, wie es im Einigungsvertrag am 31. August 1990 vereinbart worden ist. Und morgen feiert die Christenheit in Deutschland das Erntedankfest: nach evangelischer Tradition am Sonntag nach dem St. Michaelstag bzw. auf Beschluss der Deutschen Bischofskonferenz von 1972 am ersten Oktobersonntag, also in dieses Jahr am gleichen Tag. Und über beiden Festen schwebt wie ein Damoklesschwert die Frage dieser Tage: Wie werden wir den Menschen gerecht, die nach Europa und besonders nach Deutschland fliehen? „Zum ersten Mal seit 70 Jahren spielt sich Weltgeschichte wieder in unseren Grenzen ab“, habe ich letztens jemanden sagen hören.

Ich habe mich gefragt: Ist das wirklich so? Ist es wirklich das erste Mal, dass sich Weltgeschichte seit 1945 wieder in unserem Land abspielt und wir Antwort geben müssen auf die uns gestellten Fragen? Die Antwort lautet „Nein“, denn eben vor 25 Jahren, als die DDR ihren Beitritt zur Bundesrepublik erklärte, spielte sich die Weltgeschichte in unserem Land ab. Damals – und dann für viele Jahre – mussten die Deutschen Verantwortung wahrnehmen und den nicht leichten Weg zum Ausgleich zwischen Ost und West gehen. Es war eine wirtschaftliche und vor allem eine menschliche Herausforderung. Und heute kann man 25 Jahre alt sein, bewusst im Leben stehen und nichts mehr wissen von der Trennung Deutschlands in West und Ost. – Und was war das Rezept für die Einheit? Es war der Wille zur Versöhnung, der Mut zu handeln und Zuversicht für die Zukunft.

Sollte dieses Rezept nicht auch heute noch greifen? Unabhängig davon, wie es gelingt, auch die anderen europäischen Staaten ins Boot zu bekommen: Unser Land kann sich den aktuellen Problemen stellen, wenn der Wille zur Versöhnung lebendig ist. Die unglaubliche Hilfsbereitschaft der Menschen zeigt, dass wir den Mut nicht verloren haben. In meiner kleinen Gemeinde wird im Gemeindehaus ein Sprachkurs für Flüchtlinge angeboten, ist Wohnraum bereitgestellt worden, haben die zahllosen Ehrenamtlichen Räume, wo sie Erfahrungen austauschen und Kraft schöpfen können. Und in den Gottesdiensten werden nicht unerhebliche Kollekten gesammelt. – Dieses Beispiel hat Entsprechungen überall im Land. Menschen lassen sich nicht entmutigen, sie wollen Zukunft gestalten und das Heft des Handelns bewahren.

Und dann schließt sich der Kreis: Das Erntedankfest ist nicht nur der Dank für die Früchte von Feld und Garten, ist nicht nur der Dank für die Produkte unserer Wirtschaft, wie man vor 40 Jahren versuchte, das Fest neu zu betrachten. Das Erntedankfest ist vor allem der Dank für die Ernte des Lebens: Gott stellt uns vor die Herausforderung unserer Tage, einen nicht abreißenden Strom von Flüchtlingen. Aber er stärkt uns die Herzen und macht uns fähig zu handeln. Und wenn wir angesichts dieser zweiten Völkerwanderung verzagen, so weckt sein Geist uns immer wieder aufs Neue. Gibt uns die Kraft, so zu denken und arbeiten, wie es dem entspricht, der uns ein Vorbild gegeben hat: Jesus Christus. Die Heilige Schrift sagt: „All Eure Sorge werft auf Gott, denn er sorgt für Euch“.