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Einen alten Baum verpflanzt man nicht

Vor vielen Jahren hat sich mein Großvater erfolgreich geweigert, zu meiner Familie nach Düsseldorf zu ziehen – über fünfhundert Kilometer entfernt von ihm. Seine Frau war gestorben und er war allein zurückgeblieben. Aber statt nun zu uns und zu seiner einzigen Tochter zu ziehen, wie sie es sich gewünscht hatte, hatte er es vorgezogen, in seiner sächsischen Heimatstadt Freiberg zu bleiben. Dort hat er ein Zimmer in einem Altenwohnheim bezogen, denn er sagte: „Einen alten Baum verpflanzt man nicht.“

In Freiberg hatte er sein ganzes Leben verbracht, hier war er bis ins hohe Alter hinein Mitglied im Turnverein gewesen. Hier kannte man ihn, hier schätzte man ihn. Hier trug man ihn schließlich auch zu Grabe.

„Einen alten Baum verpflanzt man nicht.“ Dagegen kam meine Mutter bei aller Liebe nicht an. Erst viel später habe ich erfahren, dass dieses Sprichwort nicht immer zutrifft – jedenfalls nicht wörtlich verstanden.

Es ist nämlich so, dass man in der Natur durchaus auch alte Bäume verpflanzen kann. Allerdings braucht es dazu die besondere Kunst von Gartenarchitekten. Und über die kann man nur staunen! Sogar Bäume mit Wurzeldurchmesser von bis zu fünf Metern und einem Gewicht von dreißig Tonnen können heute schonend ausgegraben, transportiert und andernorts wieder eingepflanzt werden. Natürlich, einen alten Baum zu verpflanzen bedeutet immer Stress, vor allem für den Baum selber.

Darum beginnt man schon Jahre vor der eigentlichen Verpflanzung behutsam damit, die Wurzeln streckenweise anzuheben. Es braucht viel Zeit und Geduld und eine gute Technik. Dann kann auch ein alter Baum verpflanzt werden.

Und das nicht erst in unserer Zeit mit ihren besonderen technischen Möglichkeiten. Schon im 19. Jahrhundert wurde von Heinrich Graf von Pückler der wunderschöne Landschaftspark Branitz bei Cottbus angelegt, wobei auch jahrhundertalte Bäume neu eingepflanzt wurden. Und die gehören bis heute zum Baumbestand. Auch darüber kann man nur staunen!

Den Landschaftspark Branitz des Grafen Pückler hat auch mein Großvater gekannt. Er war ja nicht weit von seiner Heimatstadt entfernt. Er kann also gewusst haben, dass das Sprichwort vom alten Baum, den man nicht verpflanzt, auch Ausnahmen kennt. Aber er wusste eben auch, dass es dazu eine besondere Kunst braucht – mit viel Zeit und Geduld und Geld. Dazu hatte es damals bei uns wohl nicht gereicht.

Ich erinnere mich, dass mein Großvater nur einmal eine Ausnahme gemacht und unsere Familie besucht hat. Zu meiner Konfirmation ist er von Freiberg nach Düsseldorf gekommen. Darüber habe ich mich sehr gefreut. Mit dabei hatte er seine große alte Familienbibel aus dem neunzehnten Jahrhundert: in Deckeln aus Leder gefasst und mit Messingbeschlägen versehen, illustriert mit kitschigen Bildern – wie ich fand. Vorne aber mit einem Stammbaum unserer Vorfahren – handgeschrieben in Sütterlin. Das war sein Geschenk für mich. Er überreichte mir die Bibel feierlich nach seiner Ansprache, in der er auch an meine Taufe als Kleinkind erinnerte mit den bekannten Worten: „Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.“

Das war ihm wohl zeitlebens wichtig für sich selber. Das war ihm wichtig für mich zu meiner Konfirmation: Zu wissen, wo man seine Wurzeln hat und dass man zur Freiheit berufen ist. Darin sah er keinen Widerspruch.

Erst im Rückblick weiß ich es heute besonders zu schätzen, dass mein Großvater damals zu meiner Konfirmation diese Ausnahme gemacht hat von der sprichwörtlichen Regel: „Einen alten Baum verpflanzt man nicht“.