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Ein Karton mit Photos

Sie ist schon sehr alt. Bei zurückgezogener Gardine sitzt sie in einem Ohrensessel am Fenster und lässt sich von der Sonne bescheinen. Sie hat die Augen geschlossen und genießt das Licht und die Wärme. Sehr aufrecht hält sie sich. Ihre Füße, die in Lammfellschuhen steckten, stehen dicht zusammen. So ist es jedes Mal, wenn ich sie besuche. Auf einem Stuhl sitze ich ihr gegenüber. Diesmal hält sie einen alten Karton auf ihrem Schoß. Als sie mit etwas zittrigen Fingern den Deckel abhebt, sehe ich, dass er bis zum Rand mit Fotos gefüllt ist: Farbfotos, Polaroidbilder, kleine, glänzende Schwarzweißbilder, alte Aufnahmen auf bräunlichem Papier. Alles ist in diesem Karton vertreten: die 30er Jahre, die 40er, die 50er. Ungeordnet liegt alles durcheinander, jedes Bild ein Stück Lebensgeschichte.

Die alte Dame greift nach einem Bild. Es zeigt einen älteren grauhaarigen Mann in einer Parkanlage. Das war am Tegernsee, erzählt sie, ein wunderbarer Urlaub in Bayern. Jedes Jahr waren wir in dieser wunderschönen Gegend. Damals lebte mein Mann noch. Und das hier, sie dreht eine kleine Schwarz-weiß- Fotografie um, das ist meine Freundin. Auf dem Bild ist eine junge Frau zu sehen mit einem Knoten im Haar und einem Spitzenkragen über einem dunklen Kleid. Das war noch vor dem Krieg, erzählt die alte Dame. Später ist sie in den Osten gegangen und wir haben nie wieder etwas von ihr gehört. Sie legt das Foto zur Seite und sucht ein anderes aus dem Karton heraus. Ein Bild nach dem anderen nimmt sie zur Hand. Und fast zu jedem fallen ihr Erlebnisse aus ihrem Leben eine: ihre Konfirmation, ihre Hochzeit, die Taufe ihrer Kinder, das neue Haus, die Enkel, die Urenkel…

Bei manchem Foto muss sie etwas länger überlegen: Wo war das aufgenommen, wann war das und wer ist darauf abgebildet? Welche Leute sind das, mit denen sie da vor dem Haus steht? Nein, einige Male kann sie sich beim besten Willen nicht erinnern. Andere Bilder sieht sie schweigend an. Auch das mit dem Mann in dem Ruderboot legt sie leise lächelnd zurück zwischen die anderen Fotos. „Ja, man hat so seine Erinnerungen“, sagt sie nachdenklich, lehnt den Kopf wieder zurück und lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Mit einer Hand hält sie den Karton auf ihrem Schoß fest, die andere ruht auf den Fotos. Ganz ruhig hält sie ihre Hände. Deren Haut ist so durchsichtig wie Seidenpapier. Die Knochen der feingliedrigen Hände zeichnen sich ab, die Adern schimmern durch, und die Altersflecken auf ihren Händen sehen aus wie große Sommersprossen. „Man hat so seine Erinnerungen“, wiederholt sie. „Aber man vergisst auch viel. Manchmal kommen die Kinder, erzählen kleine Episoden und sagen: Mama, weißt du noch? Aber dann weiß ich es oft nicht mehr. Und das ist schade, dass man im Alter so viel vergisst. Man hat doch so viel erlebt.“ Dabei schaute sie auf den Karton und wog ihn in ihren Händen.

„Es war nicht immer eitel Sonnenschein, weiß Gott nicht“, fährt die Dame fort. „Was hat unsere Generation nicht alles durchmachen müssen! Ja, und da denke ich manchmal: Es ist doch auch eine Gnade, dass man manches einfach vergisst. Das hat der liebe Gott schon gut eingerichtet. Trotzdem ist es schön, dass ich die Fotos habe. Denn ich will nicht vergessen, was er mich Gutes hat erleben lassen.“