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Ein Ganz-Jahres-Lied

In einem großen grünen Baum sitzt ein Vogel. Unter ihm auf einer Wiese blühen viele bunte Blumen. Im Hintergrund schlängelt sich ein Bach von links nach rechts. Und ganz oben, über dem Ganzen, prangt die Sonne.

So sieht sie aus: die erste Seite in dem Schulheft, das ich im Keller gefunden habe. Es ist aus meiner Grundschulzeit. Und das eben beschriebene Bild habe ich selbst gemalt. Ein Bild zu dem Lied, dessen Strophen ich damals zunächst ins Heft schreiben und dann auswendig lernen musste: Geh aus mein Herz. Gedichtet im 17. Jahrhundert von dem Pfarrer Paul Gerhardt.

Geh aus mein Herz und suche Freud in dieser schönen Sommerszeit an deines Gottes Gaben. Schau an der schönen Gärtenzier und siehe wie sie dir und mir sich ausgeschmücket haben.

So klingt die erste Strophe, der insgesamt noch 14 weitere folgen. Das ganze Lied ist ein großer Lobgesang auf die Schöpfung. Als Paul Gerhardts Zeitgenossen das Lied zum ersten Mal gehört haben, konnten sie ihren Ohren allerdings kaum trauen. „Geh aus mein Herz“ ist entstanden kurz nach dem 30-jährigen Krieg. Ganz Europa war damals eine Trümmerwüste. „Wie kann da ein Mensch von der Schönheit der Welt singen?“ haben sich viele gefragt. „Ist das vielleicht ein Zyniker? Oder ein Verrückter?

Weder noch. Paul Gerhardt hat ein Balsam für geschundene Menschen verfasst. Er, der selbst viel persönliches Leid in seinem Leben erfahren musste, hat den Blick geschärft für all die kleinen und schönen Dinge im Leben, die auch der Krieg nicht zerstören konnte: Die Sonne, frisches Wasser, den Gesang der Vögel undsoweiter.

Für mich ist „Geh aus mein Herz“ aber kein reines Sommerlied. Denn in jeder Jahreszeit gibt es kleine Dinge zu entdecken, die wunderschön sind und die das Leben lebenswert machen. Im Herbst, der jetzt vor der Tür steht, sind es dann statt der grünen die gelbroten Blätter der Bäume. Oder statt der reifen Erdbeeren und Kirschen die reifen Trauben oder Kürbisse. Und im Winter gibt es dann glitzernde Eiskristalle zu bewundern oder die kalte frische Luft zu genießen.

All das habe ich natürlich so noch nicht gesehen, als ich in der 2. Klasse zum ersten Mal mit diesem Lied in Berührung gekommen bin. Aber seitdem begleiten mich die Verse in meinem Leben. In ganz unterschiedlichen Situationen, auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Mittlerweile über 30 Jahre lang.

Sie können das Video zum Beitrag unter der folgenden Adresse anschauen:

https://www.sr-mediathek.de/index.php?seite=7&id=106851