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Ein Brief an den Vater

Jonas ist zehn, er sieht seinen Vater nur selten, oft hat er monatelang keinen Kontakt. Bis der Vater dann plötzlich einfach anruft. Oder sie sich zufällig begegnen. Dann steht der Vater da, sagt ‚Hallo‘, schweigt – und geht. Warum macht er das, fragt Jonas seine Mutter. Sie gibt ihm die Antwort, die sie immer gibt, wenn Jonas so etwas fragt: Weil er Angst hat. Jonas würde das gerne ändern, dass sein Vater Angst hat und dass sie so selten Kontakt haben, er weiß aber nicht, was er machen kann. Wenn es stimmt, dass der Vater Angst vor ihm hat, kann er nur raten, warum das so ist. Vielleicht hat er Angst, sich zu blamieren, indem er etwas Falsches sagt und ihn irrtümlich kränkt. Oder der Vater hat Angst davor, gar nicht zu wissen, was er sagen soll. Dabei findet Jonas selbst es ziemlich schwer für seinen Vater, sich zu blamieren. Er hat ihn auch nie gekränkt, indem er etwas Falsches gesagt oder getan hat. Jonas wäre es überhaupt so etwas von egal, was der Vater sagt und tut. Es kränkt ihn höchstens, wenn er sich nie meldet. Oder wenn er nur ‚Hallo‘ sagt, und dann einfach wieder geht.

Dann hat Jonas die Idee, seinem Vater einen Brief zu schreiben. Warum? „Weil ich möchte, dass du keine Angst mehr vor mir hast“, schreibt er (S. 105). „Ich stelle mir vor, dass du durch diesen Brief weißt, wie es in meinem Leben so zugeht, und wie ich mich fühle. Wenn es stimmt, dass du wissen willst, wie ich bin, und wie es mir geht, dann erfährst du es jetzt. Wenn es stimmt, dass du Angst vor mir hast, geht dadurch vielleicht ein bisschen davon weg“ (S. 41f).

Jonas’ Brief wird ein sehr langer Brief. So lang, dass er ein Buch geworden ist, Titel: „Ich bin jetzt 10 – Ein Junge schreibt seinem Vater“. Es ist eine wahre Geschichte. Auf gut 100 Seiten erzählt Jonas seinem Vater, wie sein Alltagsleben aussieht, was sein Lieblings-T-Shirt ist, wie ein Tag in der Schule ist, dass er stolz ist auf sein Geschick beim Bogenschießen und darauf, dass er sich durch Meditation zur Ruhe bringt. Man denkt mit ihm nach über Glück und Familie, über Freunde und Wutanfälle, über Gott und die Welt, über Frieden und soziale Ausbeutung, über die Last des Lebens, die einem der Tod abnimmt. Jonas glaubt an Gott, es ist ihm wichtig, dass er freundlich ist. Er schreibt: „Bei uns gibt es nur einen Gott. Den Vater im Himmel. Es gibt auch Mutter Erde, auf der wir stehen. Ihre Kinder sind die vier Jahreszeiten, die fünf Elemente, die Tiere und die Menschen. Gott Vater ist der Wächter des Friedens“ (S. 102).

Mich hat beeindruckt, wie klug Kinder sind. Beim Lesen habe ich mich erinnert, wie klug ich selber mit zehn Jahren war. Und wie unglücklich, weil auch mein Vater abwesend war. Auch Jonas müsste eigentlich unglücklich sein, dachte ich: Seine geliebten Großeltern sind früh gestorben, eine Jungenclique in der Schule reizt und  prügelt ihn, er hat Angst, dass seine Mutter stirbt und – sein Vater ist nie da. Tatsächlich macht Jonas das traurig und wütend. Aber, schreibt er, „ich bin oft glücklich. Glück ist, wenn ich neue Freunde finde (S. 78f). Wenn ich Mut fühle, bin ich glücklich, und Glück hat viel mit Familie zu tun. Es ist eigentlich gar nicht schwer, glücklich zu sein, glaube ich. Jeder kann selbst dafür sorgen, dass er glücklich ist. Unglücklich zu werden geht meistens von allein, doch wer glücklich sein will, muss etwas dafür tun. Zum Beispiel, indem er versucht, nicht unglücklich zu sein. Ich mache das, indem ich mich auf glückliche Erinnerungen konzentriere. Ich kann mir auch einfach denken, so, jetzt bin ich glücklich. Das funktioniert bei mir.“ (S. 80).

Nach dem Lesen des Buch-Briefes dachte ich: Das mache ich Jonas nach: einem Menschen, der mir wichtig ist, in einem Brief schreiben, was mir wichtig ist, wie ich bin, worüber ich nachdenke, wie ich mich verändere. – Jonas wusste nicht, was sein Vater wohl denken wird beim Lesen des Briefes, den er jetzt gerade, kurz vor Weihnachten 2015, erhalten hat. Aber Jonas weiß auf jeden Fall mehr über sich selbst. Und er hat das aufgeschrieben. Das war mutig. – Schon das allein ist Glück.