Die Quernst
Ich bin auf einer Wanderung im nordhessischen Nationalpark Kellerwald-Edersee. Es geht bergauf durch Buchenwälder. Die Sonne scheint, die Vögel singen, ich bin allein. Ich brauche das, denn es geht mir nicht gut. Auf einer Anhöhe dann ein wunderschöner Rundumblick. Ich spüre Weite und gleichzeitig Nähe. Am Rand steht eine Kapelle. Ich höre Musik und trete ein. Durch die bunten Fenster der Kapelle scheint das Sonnenlicht auf einen kleinen Altar. Auf der ersten Bank sitzen drei Männer. Einer von ihnen spielt auf einer Ukulele, alle drei singen das Halleluja von Leonhard Cohen. Es ist magisch. Ich fühle mich Gott ganz nah: diese Kapelle und die Musik – ein erfüllter Moment, den ich genieße und der mir guttut. Zurück im Alltag forsche ich nach. Ich war auf der Quernsthöhe. Einer ehemals bewaldeten Anhöhe. Im Mittelalter stand hier ein Dorf mit einer Kirche. Doch im Zuge der Reformation wurde das Dorf und die Kirche von den Menschen verlassen und aufgegeben. Das Gotteshaus verfiel, die Steine wurden weggebracht und in neuen Häusern verbaut. Die Überreste wurden vom Wald überwuchert. Dann, im Februar 1990 legt der Sturm „Wiebke“ die Mauerreste frei. Die ansässige evangelische Gemeinde organisiert den Wiederaufbau der Kapelle. Seit 2006 steht sie an der alten Stelle. Das Dach erinnert an die Form eines Menschen, der schützend seinen Mantel ausbreitet. Und genau das habe ich gespürt.