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Die orangene Musikkassette

Ich halte sie plötzlich wieder in der Hand, die orangefarbene Musikkassette. Wie lange ist das jetzt her? Ich suche meinen alten Kassettenrekorder, lege die Kassette ein und drücke den Abspielknopf. Man hört Rauschen, ein wenig Knistern, dann sagt eine Kinderstimme: „Hallo Oma!“ Schon sind sie da, die Erinnerungen: ich mit Oma Gisela in der Stube, den alten Kassettenrekorder zwischen uns. 28 Jahre ist das jetzt her. Die Knöpfe gedrückt und schon ging es los mit der Aufnahme: „Hallo Oma! Kannst du mir etwas über den Krieg erzählen?“ Und Oma erzählt. Von der Flucht und der Vertreibung aus ihrer Heimat in Pommern. 12 Jahre war sie damals alt, musste alles zurücklassen. Mitnehmen konnten sie nur, was ihre Mutter, ihre Schwester Helga und sie selbst tragen konnten. Oma erzählt von der Kälte, vom Hunger. Sogar gefrorene Kartoffeln hat sie unterwegs gegessen. Immer wieder fällt das Wort Angst. Sie erzählt scheinbar ohne Verbitterung, fast wie eine Beobachterin der eigenen Lebensgeschichte.

Was für ein Schatz diese alte Kassette doch ist, denke ich. Sie hat ein Stück meiner Lebens- und Familiengeschichte konserviert. Auch meine Familie war von Flucht und Vertreibung betroffen. Ich bin Enkel eines Flüchtlings. Daran erinnert mich die Kassette und dafür bin ich dankbar. Denn ich brauche solche Erinnerungen. So wie alle Menschen zu allen Zeiten. Schon im Alten Testament war das so. Da hat Jakob zum Beispiel einmal extra einen Stein als Denkmal aufgestellt, damit der ihn immer an eine Begegnung mit Gott erinnert. Ein Ereignis, das immens wichtig für Jakobs weiteres Leben war.

Eins meiner persönlichen Denkmäler ist eben die orangefarbene Kassette. Das, was meine Oma darauf erzählt beeinflusst mein Leben. Es prägt meinen Blick auf die Menschen, die in ihrer Not nach Deutschland kommen. Täglich sehe auch ich im Fernsehen die Gesichter der Frauen und Männer, die der Kinder in den Flüchtlingsunterkünften. Ein Mädchen ist mir dabei besonders in Erinnerung geblieben, vielleicht zwölf Jahre alt. In zerrissenen Kleidern war sie vor einer Flüchtlingsunterkunft zu sehen als die Kamera einen Schwenk über den Vorplatz machte. Seitdem frage ich mich: Was hat dieses Mädchen erlebt? Wo wird sie ihre neue Heimat finden? Wie wird ihr Leben dort aussehen? Und: Was wird sie ihren Enkelkindern eines Tages über ihre Flucht erzählen?