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Die erste Pflicht

Eine schlichte Tafel mitten in New York. Angebracht am Eingang zu einer methodistischen Kirche. Im Grunde total unscheinbar. Besonders in einer Stadt wie Big Apple, wo so vieles blinkt, leuchtet und strahlt. Fast wäre ich an der Tafel vorbeigelaufen. Auf ihr steht nur ein Satz. Weiße Buchstaben auf schwarzem Grund.  “The first duty of love is to listen – die erste Pflicht der Liebe ist es, zuzuhören.” Paul Tillich hat das gesagt. Ein deutscher Theologe, der 1933 vor den Nazis in die USA emigriert ist und dort unter anderem in Havard gelehrt hat.

„Die erste Pflicht der Liebe ist es, zuzuhören.“ Auf Anhieb überrascht mich der Satz. Ganz spontan fallen mir andere Dinge ein, die ich mit Liebe verbinde. Umarmen, küssen, helfen, trösten undsoweiter. Aber zuhören?

In den folgenden Tagen denke ich noch oft an das Zitat von Paul Tillich. Und immer mehr komme ich zu dem Ergebnis, das er doch recht hat. Zuhören klingt zwar banal, ist es aber gar nicht. Denn wirklich zuhören – ich meine nicht nur so zu tun als ob – wirklich zuhören ist sehr anstrengend. Denn es erfordert, sich ganz und gar auf den anderen einzulassen. Sich unter Umständen auch Dinge anzuhören, die mir ganz und gar nicht gefallen. Weil ich eine andere Meinung habe. Oder weil meine vorgefertigte Meinung über mein Gegenüber ins Wanken gerät und ich mir sagen muss: Hmm, so habe ich das noch gar nicht gesehen. Oder weil ich beim Zuhören auch mal Stille aushalten muss. Und all das, obwohl ich gerade gar keine Zeit habe und dringend weg müsste.

Schwierig. Ganz schwierig. Aber Liebe funktioniert eben so. Da gebe ich Paul Tillich recht. Er hat ja mit seinem Satz letztlich  nur das in Worte gefasst, was Jesus vorgelebt hat. Der hat ja nicht nur gepredigt, also selbst geredet, sondern auch zugehört. Auch denen, mit denen sonst niemand geredet hat, weil man nichts mit ihnen zu tun haben wollte.

“Die erste Pflicht der Liebe ist es, zuzuhören!“ Ich habe mir vorgenommen, diesen Satz ab sofort häufiger in die Tat umzusetzen. Zum Beispiel schon heute. Und ich weiß auch schon, bei wem. Wie ist das bei Ihnen? Wem könnten Sie heute mal richtig zuhören?