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Der Moral-o-mat

Auf meiner Kommode steht neuerdings ein Moral-o-mat. Den habe ich geschenkt bekommen. Eines dieser Verlegenheitsgeschenke, war mein erster Gedanke.

Der Moral-o-mat hat es aber, wie ich dann gemerkt habe, durchaus in sich. Das „Klappbuch für Diskussionen, Selbstgespräche und Sinnkrisen“ – so die Verlagswerbung – sieht aus wie ein Tischkalender zum Umblättern. Nur dass drei Blöcke nebeneinander in der Spiralbindung hängen. Darauf stehen Thesen zu Werten, Normen und Gesellschaft. Der Clou: Die Satzteile lassen sich durch Umblättern der einzelnen Blöcke frei kombinieren. Dann wird etwa aus dem Satz „Gerechtigkeit ist primär das, wofür es sich zu leben lohnt“ nach zweimaligem Umblättern „Geld ist für unsereins das, wofür es sich zu leben lohnt“.

Eine nette Spielerei also, denke ich, und blättere spaßeshalber hin und her. Bis ich an dem Satz hängenbleibe: „Konsum ist in Zukunft alles, was wir haben.“ In diesem vom Moral-o-mat willkürlich zusammengewürfelten Satz steckt so viel drin, dass meine Gedanken anfangen zu kreisen. Ich denke an meine Gespräche mit Freundinnen und Freunden über die Frage, wie viel wir tatsächlich zum Leben brauchen. Über das Verbot des Rettens von Lebensmitteln aus den Mülltonnen der Supermärkte. Über die Werbung im Internet, derer man sich kaum mehr erwehren kann. Und ich erinnere mich an eine meiner ersten gesellschaftspolitischen Lektüren, die mich als Jugendliche geprägt haben: „Haben oder Sein“ von Erich Fromm. Ich sinniere darüber, wie sich meine Wertvorstellungen gebildet und entwickelt haben. Und überhaupt: Was sind eigentlich Werte?

Der Philosoph Hans Joas sagt: Zu unseren Vorstellungen darüber, was gut oder schlecht ist, kommen wir nicht, indem wir uns für die eine oder andere entscheiden, sondern weil uns etwas in besonderer Weise packt oder ergreift. Wenn wir uns einem Wert intensiv verbunden fühlen, dann fühlen wir uns zugleich frei und ganz bei uns. So wie Martin Luther, der – als er aufgefordert war, seine Lehre zu widerrufen – gesagt hat: „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.“

Werte bringen mich überhaupt erst auf die Idee, bestimmte Sachen zu tun, indem ich etwa ein Vorbild habe, an dem ich mich orientiere und das mich ermutigt, über mich hinauszuwachsen. Die Vermittlung von Werten habe ich an unterschiedlichen Orten erlebt: in der Schule, im Elternhaus, in der Clique, in der kirchlichen Jugendgruppe.

Viele Werte, die mir heute wichtig sind, waren es auch schon früher: etwa Gerechtigkeit, Solidarität, Zuverlässigkeit. Manche sind mir wichtiger geworden: Ehrlichkeit, Respekt, Freiheit, aber auch Sicherheit. Die Frage, welche Werte und Normen mir wichtig sind, oder auch die Frage, in welcher Gesellschaft ich leben möchte, stelle ich mir häufiger als früher. Die Welt ändert sich so schnell und so radikal, dass ich gedanklich nicht stehen bleiben kann und will. Beim Nachdenken hole ich mir gerne Anregungen: in Büchern, im Radio, bei Vorträgen, bei einer guten Predigt, in Diskussionen mit anderen, die auf der Suche nach Antworten auf die Fragen der Zeit sind.

Wie es aussieht, wird mir auch der Moral-o-Mat auf meiner Kommode noch manchen mal mehr, mal weniger ernsten Anstoß zum Nachdenken geben. Etwa über diese These, die er zufällig ausgeworfen hat:

Religion ist, theoretisch, eine große Chance.