Beiträge

Das schöne weiße Taschentuch

In der U-Bahn an einem heißen Sommerabend. Die Klimaanlage ist ausgefallen. Jeder sehnt sich danach, so schnell wie möglich aus der stickigen Bahn wieder ins Freie zu kommen. Ein eleganter Mann betritt den Wagen: glatt rasiert, maßgeschneiderter Nadelstreifenanzug, hochglänzend polierte Schuhe. Er steht kerzengerade an der Tür, ohne sich festzuhalten. Vermutlich will er den Kontakt zu den vom Schweiß klebrigen Haltestangen vermeiden.

An der nächsten Station steigt ein Teenager mit blutender Nase ein; sein weißes T-Shirt ist übersät mit Blutflecken. Was tun die anderen Mitfahrer? Sie schauen weg. Der Jugendliche lehnt sich an die Wand, die Hand vor dem blutenden Gesicht.

Eine Station weiter dreht sich der Gentleman zum Ausgang. Aber er verlässt den Wagen nicht, ohne vorher sein perfekt gefaltetes weißes Taschentuch aus seiner Brustasche zu ziehen und es dem Jugendlichen zu reichen. Dann steigt er aus.

Ich weiß nicht, was die andern Mitfahrer gedacht haben. Vermutlich waren sie überrascht: Ausgerechnet der feine Pinkel, dem man alles andere zugetraut hätte, kümmert sich um die Not dessen, von dem er im Alltag vermutlich unüberbrückbar weit entfernt ist.

Unser erster Eindruck von anderen täuscht oft. Wir urteilen nach der Fassade. Dabei täte es unserem Miteinander gut, gelegentlich dem Menschen hinter der Fassade eine Chance zu geben. Oder überhaupt die Vermutung zuzulassen, dass da ein Mensch hinter der Fassade vorhanden ist: Einer mit Herz und Verstand.