Buß- und Bettag
Musik: „Die Zeit heilt alle Wunder“, Wir sind Helden, aus: „Die Reklamation“, 2003
Autor:
Guten Morgen liebe Hörerinnen und Hörer! Mit dem Lied die „Zeit heilt alle Wunder“ der Gruppe „Wir sind Helden“ grüße ich Sie herzlich zu dieser Morgenfeier am Buß- und Bettag. Herzlich willkommen! Schön, dass Sie heute mit dabei sind.
Sprecher:
Die Zeit heilt alle Wunder, schon nach wenigen Jahren. Nur noch Narben, da wo Wunder waren. Wann wirst du endlich lernen, dir nicht den Kopf zu verdreh’n? Du fällst über Hunde und deine eigenen Zehen. Du kannst kaum grade laufen, Bleibst alle zwei Meter steh’n. Und fällst auf die Knie, Damit die Wunder dich seh’n. Und das zehnte Wunder zieht an dir vorbei. Du betest, dass es steh’n bleibt, zählst bis drei. Und es geht vorbei, es geht vorbei.
Autor:
Dass die Zeit alle Wunden heilen soll, das ist ja eine altbekannte Lebensweisheit. Aber dass die Zeit auch Wunder heilt? Der Dreh im Lied irritiert mich. Und gerade jetzt im Herbst, wenn es draußen dunkler, kälter und ungemütlicher wird, da gehen meine Gedanken oft wie von selbst auf Reisen.
Zu den Orten meiner Kindheit, zu fast vergessenen Freundschaften – und ja, auch zu den längst verheilten Wundern.
Eigentlich ist es ja schon fast verrückt, wie wundervoll so eine Kindheit sein kann. Wenn aus alten Kartons mit Scheren, Stift und Fantasie im Handumdrehen ganze Piratenschiffe werden können. Und was haben wir die Weltmeere damit unsicher gemacht! Aus einem Busch auf dem Schulhof wurde eine Burg, die das holde Fräulein vor bösen Raubrittern beschützt hat. Und die Regentropfen draußen auf dem Autofenster, die sind auf langen Fahrten Wettrennen gegen sich selbst und die Zeit gelaufen. Vielleicht war auch früher nicht unbedingt alles besser, aber für mich war die Welt damals irgendwie größer, irgendwie bunter und ja, ganz sicher wundervoller als heute.
Ein kleines bisschen tut es mir weh, wenn meine Gedanken auf Reisen gehen. Denn wenn ich ganz ehrlich bin: Heute sieht meine Welt anders aus. Irgendwann, und ich weiß wirklich nicht genau wann, da sind die Piratenschiffe von früher einfach zu Altpapier geworden. Büsche sind nur noch Büsche, und auch die Regentropfen auf der Fensterscheibe sind nur noch grauer Novemberregen, der mir langsam aber sicher auf die Stimmung drückt.
Sprecher:
Die Zeit heilt alle Wunder, wenn du sie gut verschnürst. Bind nur die Stelle gut ab, bis du gar nichts mehr spürst. Du weißt, dein Feuer geht aus, wenn du’s länger nicht schürst. Und du weißt, dass du besser an alte Wunder nicht rührst. Die Zeit heilt alle Wunder. Und auch das größte Wunder geht vorbei. Und wenn es dich nicht loslässt, zähl bis drei. Und es geht vorbei, es geht vorbei.
Autor:
Die Zeit heilt alle Wunder. Vielleicht ist es gar kein Zufall, dass wir – mitten im November, wenn die Gedanken auf Reisen gehen und die Tage dunkler werden – den Buß- und Bettag feiern. Und dass, obwohl dieser Feiertag gar kein freier Tag mehr ist. Schon in den 90er Jahren wurde er für die Finanzierung der Rentenversicherung aufgegeben. Trotzdem ist er auch heute immer noch für viele Menschen fester Bestandteil im Kirchenjahr.
Und dabei kommt der Buß- und Bettag – im Gegensatz zu Weihnachten oder Ostern -gar nicht mit Glanz und Glorie, nicht mit Festgottesdiensten und vollen Kirchen daher. Nein, der Buß- und Bettag schlägt als Feiertag viel leisere Töne an.
Er ist ein Tag für den Blick nach innen. Kein freier Tag, aber einer, der trotzdem dazu einlädt, einmal innezuhalten und nach Innen zu schauen. Auch, um eine Antwort auf die Frage zu finden, warum die Zeit anscheinend wirklich alle Wunder heilt. Mitten in unserem Alltag, zwischen Arbeit und Pflicht, da feiern wir Buß- und Bettag. In einer ziemlich verrückten Welt.
Musik: “Mad World”, Michael Andrews/ Gary Jules, aus: “Trading Snakeoil for Wolftickets”, 2001
Autor:
Ja, der Buß- und Bettag ist ein besonderer Feiertag. Auch, wenn er schon längst kein freier Tag mehr ist. Im Gegensatz zu Weihnachten oder Ostern ist er kein Feiertag, der mit großen Festgottesdiensten und vollen Kirchen daherkommt. Nein, der Buß- und Bettag schlägt vielmehr leisere Töne an. Er lädt zum Innehalten ein. Zum nach Innen schauen. Mitten in unserem Alltag, zwischen Arbeit und Pflicht. Wenn Meine Gedanken auf Reisen gehen und der Novemberregen gegen das Fenster weht.
Sprecher:
Überall um mich herum sind bekannte Gesichter. Abgenutzte Orte, abgestumpfte Gesichter. In aller Frühe laufen sie ihre Rennen und gehen nirgends hin, kommen nirgends an. Ihre Tränen füllen ihre Gläser, keine Miene, keine Miene. Ich halte meinen Kopf unten, will meinen Kummer ertränken. Es gibt keinen Morgen. Keinen Morgen. Und ich finde es irgendwie lustig. Ich finde es irgendwie traurig.
Aber die Träume in denen ich sterbe, sind die Besten, die ich jemals hatte. Es fällt mir schwer, es dir zu sagen. Es fällt mir schwer, es zu ertragen. Wenn die Leute im Kreis herumlaufen. Es ist eine verrückte Welt.
Autor:
So oder so ähnlich dichtet es Michael Andrews und Gary Jules in ihrem Lied „Mad World“ aus dem Jahr 2001. Und auch, wenn das nun schon fast 25 Jahre her ist – dieses Lied rührt etwas in mir an.
Denn wenn ich ganz ehrlich bin, dann kommt es mir manchmal so vor, als wäre mein Leben still in einen Takt gefallen, den ich gar nicht bewusst gewählt habe. Jeden Morgen klingelt der Wecker. Und jeden Morgen klingelt er zu früh. Der Kaffee läuft durch, die Nachrichten deprimieren mich und jeden Morgen fahre ich dieselbe Strecke zur Arbeit. Jeden Tag sehe ich dieselben Gesichter. Zwischen Mails, Terminen und dem Abendbrot vergeht fast schon unbemerkt ein Tag nach dem anderen. Ordentlich. Routiniert. Aber: Geheilt von allen Wundern. Da sind keine Piratenschiffe mehr und keine Burgen. Stattdessen Einkaufszettel, Rechnungen und Arzttermine. „It’s a mad World“ singt Gary Jules. Und ja: Es ist eine verrückte Welt.
Sprecher:
Oder bin ich es, der verrückt ist? „Verrückt“ – nicht im Sinne von „psychisch krank“. Sondern „verrückt“ im wörtlichen Sinne. Stehe ich ein Stück neben mir selbst? Wie von außen betrachte ich mich und mein Leben und wundere mich: Ist das schon alles?
Autor:
Wir feiern den Buß- und Bettag. Ein besonderer Feiertag, auch wenn er kein freier Tag mehr ist. Aber vielleicht macht ihn gerade das so außergewöhnlich. Denn er kommt mitten im Alltag. Mitten in der Routine. Er lädt mich ein innezuhalten. Mich umzusehen. Und mich und mein Leben zu überdenken. Ist das wirklich schon alles? Oder könnte es nicht auch ganz anders sein?
Musik: „The sound of silence – Acoustic Version”, Simon & Garfunkel, aus: Wednesday Morning, 3. A.M.”, 1964
Autor:
“People talking without speaking, people hearing without listening.” Menschen reden, ohne wirklich etwas zu sagen. Menschen hören, ohne wirklich hinzuhören. Und mitten drin: Der Klang der Stille. Nicht diese friedliche Ruhe an einem frühen Morgen. Sondern diese andere. Die, die in den Ohren klingt. Die, die entsteht, wenn man nichts mehr zu sagen hat – oder einfach keine Worte mehr findet.
Wir feiern Buß- und Bettag. Mitten in unserem Alltag. Mitten in der Routine zwischen Wecker, Arbeit und Pflicht – denn ein freier Tag ist der Buß- und Bettag schon längst nicht mehr. Aber vielleicht macht gerade das auch diesen Feiertag zu etwas ganz Besonderem. Denn er lädt mich ein, mittendrin wirklich einmal innezuhalten und auf mein Leben zu schauen. Und auch die Stille in mir auszuhalten.
Und dabei hat der Buß- und Bettag wirklich einen sperrigen Namen. Beten – das geht vielleicht gerade so noch. Das Stoßgebet zum Beispiel. Vor Prüfungen. Vor dem einen Termin mit dem Chef. Oder auf dem Krankenhausflur. Und auch wenn das Gebet an sich vielleicht nicht mehr für alle zum Alltag gehört – die alte Weisheit, Not lehrt Beten, die bewahrheitet sich doch immer wieder. Aber Buße?
Das klingt alt. Altmodisch sogar. Und irgendwie unangenehm. Bei Buße denke ich an Mönche und Beichte, an moralinsaure Predigten und eine Kirche, von der ich eigentlich kein Teil sein will. Aber: Buße meint ja nichts anderes als „Umkehren, wenn ich irr gegangen bin“. Das ist das Angebot des Buß- und Bettags. Einmal mitten im Alltag anzuhalten, mich umzusehen und mich zu fragen, ob ich noch auf dem richtigen Weg bin.
Sprecher:
Die Zeit heilt alle Wunder. Eigentlich verrückt, dass ich mich damit arrangiert habe. Irgendwann habe ich Staunen gegen Sicherheit eingetauscht. Abenteuer gegen Bequemlichkeit. Und Träume gegen Pragmatismus. Ist das wirklich das Leben, dass ich führen will? Oder könnte es nicht auch ganz anders sein? Könnte ich nicht auch ganz anders leben?
Musik: „Shake it out – Acoustic”, Florence + The machine, aus: “Ceremonials. Original Deluxe Version”, 2011
Autor:
Wir feiern Buß- und Bettag. Kein freier Tag mehr, aber vielleicht gerade deswegen ein Feiertag, der ganz besonders ist. Ein Tag, um mitten im Alltag einmal innezuhalten. Mich umzusehen. Und mir die Frage zu stellen, ob ich eigentlich noch in meinem Leben auf dem richtigen Weg bin. Oder ob ich nicht auch ganz anders leben könnte.
„It`s always darkest before the dawn“. Am dunkelsten ist es immer kurz vor dem Morgen. So singt es Florence Welch in ihrem Lied „Shake it out“, dass wir gerade gehört haben. Die Vergangenheit ändern? Das kann keiner. Auch sie selbst nicht. Aber neu anfangen – das schon. Fast schon trotzig tanzt und singt sie voller Lebensfreude für einen neuen Morgen – und schüttelt alles, was lähmt, alles, was mürbe oder hartherzig macht, einfach ab. Wie gerne würde ich das auch tun. Wie gerne will ich es versuchen.
Ja, vielleicht ist es wirklich kein Zufall, dass wir den Buß- und Bettag im November feiern. In dieser grauen Zwischenzeit, in der alles stiller wird. In der die Gedanken reisen und die fast verheilten Wunder aus fast vergessenen Tagen wieder ans Licht kommen.
Manchmal tut das weh. Weil ich spüre, was verloren gegangen ist. An Mut. An Leichtigkeit. An Träumen. Aber: so, wie es ist, muss es nicht bleiben. Der Buß- und Bettag gibt mir Gelegenheit umzukehren, einen anderen Weg zu wählen und neu anzufangen.
Umkehr – das heißt den ersten Schritt zu wagen. Und was wäre das für ein Wunder, wenn er tatsächlich gelingt. Wenn ich tatsächlich aufbreche aus dem, was mich festhält. Aus all den Routinen, die mich klein machen. Aus all den Gedanken, dir mir zuflüstern: „Das war’s. Mehr wird nicht kommen“.
Vielleicht fängt Umkehr ganz leise an. Mit einem Gedanken. Einem Gebet. Einem ehrlichen Blick auf mich selbst. Ohne zurückzuschauen und Schuld zu suchen – sondern um nach vorne zu sehen – und den ersten Schritt zu gehen.
Musik: „Feeling good“, Nina Simone, aus: „I put a spell on you“, 1965