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Biografiearbeit

„Ich erinnere mich an den Augenblick, als ich Lesen gelernt habe: wie auf einmal aus aneinander gereihten Buchstaben Wörter und aus Wörtern Sätze geworden sind.“

„Ich erinnere mich an den Geschmack von Sauerampfer, den wir Kinder tief im Wald gepflückt haben.“

„Ich erinnere mich an den ersten Schrei meines neu geborenen Kindes.“

Im Erinnern an die kleinen und großen Geschichten, an unvergessliche Momente, an Menschen, die uns auf wichtigen Wegstrecken begleitet haben, steckt eine große Kraft. Die sogenannte „Biografiearbeit“ macht sich diese Kraft zunutze. „Biografiearbeit unterstützt Menschen dabei, ihr Leben zu reflektieren. Sie eröffnet Räume, in denen Menschen ihre Vergangenheit besser verstehen lernen, um ihre Gegenwart gestalten und die Zukunft angemessen entwerfen zu können.“ So sagt es der Verein „Lebensmutig“. Er hat sich die Weiterentwicklung und Verbreitung der Biografiearbeit im deutschsprachigen Raum zur Aufgabe gemacht hat.

Zum Beispiel im Rahmen von Workshops, die auch mal an besonderen Orten stattfinden. Etwa auf der Nordseeinsel Juist. Dort der Verein „Lebensmutig“ in diesem Frühjahr eine biografische Werkstatt angeboten. Ebbe und Flut, Watt und Dünen, Sand und Treibgut: Die Elemente der Insel  sind wie geschaffen für die Beschäftigung mit der eigenen Biografie. So haben die Teilnehmenden – auch ich – anregende Tage auf der Insel verbracht: Wir haben uns beim Erzählen und Zuhören, beim Schreiben und kreativen Gestalten erinnert und die eigenen Erinnerungen mit denen der anderen verglichen. Bei allen Unterschieden haben wir viele Gemeinsamkeiten erkannt: Schicksale, die sich aus ähnlichen Lebenslagen oder den miteinander geteilten geschichtlichen Umständen ergeben haben. Es hat uns ermutigt wahrzunehmen, wie viel jeder von uns schon geleistet, ausgehalten und losgelassen hat. Genau darum geht es in der Biografiearbeit: die eigenen Ressourcen zu spüren, Mut zu schöpfen, um „ja“ sagen zu können zu dem, was war, ist und kommen wird.

Es gibt viele Einsatzfelder für biografisches Arbeiten: Kinder- und Jugendarbeit, Erwachsenenbildung, Arbeit mit an Demenz Erkrankten, Hospizarbeit, Migrationsarbeit. Die Methoden sind bunt: biografische Dialoge, Erzählcafés, Schreibwerkstätten, die Erstellung von Lebensbäumen und Lebensbüchern. Der Blick kann sich auf die Familiengeschichte, die Lern-, Berufs- oder Kulturbiografie richten. Auch die Glaubensbiografie kann ein Aspekt sein: Woraus habe ich im Laufe meines Lebens Sinn geschöpft, wie haben sich meine Vorstellungen von einem Jenseits, meine Bilder von Gott, meine spirituelle Praxis verändert? Die Suche nach dem roten Faden darin kann neue Orientierung in Zeiten von Glaubens- und Sinnkrisen geben.

Die biografische Inselwerkstatt hat am höchsten Punkt von Juist geendet: in der gläsernen Kuppel des Kurhotels. Unser Blick ist über Dünen und Strand, das offene Meer auf der einen Seite und das von der Ebbe freigegebene Watt auf der anderen Seite geschweift. Überm Watt dunkle Regenwolken, überm Meer strahlend blauer Himmel. Ein Sinnbild für das Auf und Ab im Leben und die Chance, die im Perspektivwechsel liegt: Manchmal hilft es, die Blickrichtung zu wechseln, damit wieder Licht ins Leben kommt. Der Workshopleiter hat die Teilnehmenden dort oben mit einer letzten Aufgabe entlassen: „Erinnert euch an Augenblicke, in denen ihr dem Himmel ganz nah wart.“ Ich gebe das an Sie weiter und frage: Wann waren Sie zuletzt dem Himmel ganz nah?