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Bibelheim

In meinem Bücherregal wächst eine kleine Sammlung. Ich sollte sie Bibelheim nennen. So wie ein Tierheim Hunden und Katzen Zuflucht bietet, sammeln sich bei mir ausgediente Bibeln und Ge­sangbücher. Einige habe ich bei der Arbeit selbst verschlissen. Doch die aller­meisten werden mir von Freunden überlassen, mit Worten wie: „Du hast doch bestimmt Verwendung dafür.“ Dahinter steht eine bemerkenswerte Hemmung. Offenbar mag niemand die Heilige Schrift einfach ins Altpapier werfen.

Manch einer sagt sich vielleicht: „Beim Pfarrer, das ist sie gut aufgehoben, die alte Bibel. Da bekommt sie ihr Gnadenbrot.“ Aber das erscheint mir seltsam verdreht. Will nicht gerade die Bi­bel mit Gottes Wort dem Menschen sein Gnadenbrot schenken? Wenn er‘s denn kosten will. Doch da liegt das Problem. Die alten Bücher in meinem Regal erzählen vom Lesen, das zu Ende ging. Von Lebensgeschichten, Familientraditionen, an deren Ende es plötzlich keinen Nachfah­ren mehr gibt, dem man das gute Stück vererben kann. Oder sie erzählen von persönlichen Glaubensgeschichten, die zu Ende sind. Da kann jemand dem Inhalt nichts mehr abgewinnen. Vor dem Buch aber hat er Achtung. Und in der Achtung des alten Buches wohnt vielleicht auch die Achtung vor den Menschen, denen dieses Buch einmal Halt und Trost war. Deren Leben es begleitet hat. Manche der Bibeln tra­gen Hochzeitswidmungen im Einband. Die Menschen sind ge­gangen, aber diese Spur ihrer Liebe bleibt noch.

Wer weiß, vielleicht erzählt mein Bibelheim ja auch von einer Sehnsucht. In manchem Buchgeschenk ahne ich, da möchte je­mand seine Erinnerung an die Menschen vor ihm und ihre Gewissheiten, nicht loslassen. Seine Erinnerung an eine Zeit, in der Generationen mit dem Wort Gottes ihren Alltag bewältigten. Aber diesem jemand gelingt es nicht, sich angesichts seiner modernen Lebenswelt dem Gott der Bibel anzuvertrauen. So hilft es ihm, sein gutes Stück in meinem Bibelheim zu wissen. Etwa wie ein Lesezeichen im Buch des eigenen Lebens, um die Stelle doch noch einmal aufzuschlagen. Später vielleicht.