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Ausstrahlung

Heute bleibt es still in London. Herbstlaub auf regennassem Pflaster vor dem Buckin­gham Palast. Ein Blumenstraß am Straßenrand.

Zehn Tage hat die Welt Abschied ge­nommen von Königin Elizabeth der Zweiten. Nun ist das letzte Protokoll vollzo­gen, alle Kon­dolenz zum Ausdruck gebracht und keine Angst, dies hier wird auch kein zu später Nachruf auf die gestorbene Monar­chin.

Mich bewegt die Stille danach, und was sie bei uns Menschen zum Vorschein bringt. Die verstor­bene Queen bleibt nur ein Beispiel. Abschied nehmen müssen wir tag­täglich.

Jede Todesnachricht verwandelt die Zurückbleibenden. Und dieser Wandel braucht Stille, um ihn zu ermessen. Einen Menschen zu verlieren, das ist wie ein Diebstahl am Bild vom eige­nen Leben. Als hätte mir jemand in meinem kleinen Schloss ein Zimmer versiegelt. War da gestern noch dieser Raum mit dem Namen, der mir viel bedeutete, finde ich heute Morgen den Schlüssel umgedreht. Ich darf ihn nicht mehr aufsuchen – nie wieder, wie es scheint. Und wenn ich auch seit Jahren kaum hineingegangen bin, so hat es mir doch gereicht zu wissen: er ist noch da. Ich konnte mich in den vier Wänden meines Weltbildes heimisch fühlen, weil da je­mand war, der mir diese Heimat gab. Nun bleibt die Türe zu. Der umge­drehte Schlüssel ändert alles.

Was für eine Beisetzung! Eigentlich hätte es der Welt doch reichen müssen zu wis­sen, dass sie nun gestorben ist, die 96-Jährige kleine alte Dame. Auf keine Nachricht war man so vor­bereitet wie auf diese. Aber es ging vergangene Woche nicht um eine mehr als erwartbare Todesnachricht, sondern um ihre Wirkung. Der Abschied von einem Teil des eigenen vertrauten Weltbildes, der musste von der Welt erst einmal erschlossen wer­den. Darum all die Sondersendungen und Extrabeilagen.

Zu den faszinierendsten Eigenschaften eines Menschen gehört es, allein durch seine Anwesenheit einen Raum zu füllen. Die Welt zu prägen. Selten ist es mir so bewusst geworden wie beim Sterben meines Schwiegervaters vor nicht allzu langer Zeit. Ähnlich wie die Queen hatte er sein Leben gelebt, mit Höhen und mit Tiefen. Zuletzt ist er immer krän­ker geworden. Und dann sind seine Kräfte nach und nach verlo­schen. Aber solange er noch da war, war alles da, was er für andere bedeutet hat. Halt und Liebe und Aus­strahlung und Zuversicht – in den kleinsten Gesten, in einem Blick, einem Lächeln. In spär­lichsten Worten.

Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, heißt es am Anfang der Bibel, nach dem Bilde Gottes schuf er ihn. Nicht, damit wir im Badezimmerspiegel Gottes Antlitz erkennen, sondern ihm folgen in der schöpferischen Gabe, die­ser Welt ein Gesicht zu geben. So verstehe ich Gottebenbildlichkeit. Jede und jeder von uns hat diese un­fassbar große Energie in sich. Allein durch unser Dasein können wir anderen Sinn und Halt und Trost geben. Ein ganzes Weltbild tragen.

Mag sein, dass eine Königin von England mehr Möglichkeiten hat, die Welt zu prä­gen, als mein Schwiegervater. Aber lag die Macht der Queen nicht auch allein in ih­ren Ges­ten, ihrer Haltung und Ausstrahlung? So groß ist der Unterschied dann auch nicht. Der Mensch, ein Blumenstrauß am Straßenrand.

Heute Morgen bleibt es still in Lon­don. So still, wie es in mir wurde, als mein Schwiegervater dann gestorben war. Die Stille bringt zutage, wie sehr ein Verlust die Welt verändern kann. Aber nicht nur. Die Stille erzählt mir auch, wie sehr ich selbst für andere eine Welt bedeuten kann.