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Augenblick

Leise knirscht der Schnee unter unseren Füßen. Es ist kalt und in der Nacht hat es frisch geschneit. Mein Sohn läuft einige Schritte voraus und folgt den ersten Spuren im frischen Schnee. Plötzlich bleibt er stehen. „Guck mal, Papa, ein Reh!“. Vorsichtig komme ich näher und schaue in seine Richtung. Tatsächlich: im Unterholz steht ein Reh und schaut in unsere  Richtung. Im braunen Fell zwischen den braun-grauen Bäumen gerade noch sichtbar in der weißen Winterlandschaft. Bezaubernd. „Ja. stimmt. Das ist ein Reh!“, sage ich. Und:  „Die sind im Winter oft allein unterwegs und suchen Futter.“ Und während ich so spreche, wird mir bewusst, wie sehr ich meinem Sohn und mir mit diesen Worten den Moment zerrede. Ein Moment des Geheimnisses, ein Moment des sich Wunderns, des Überrascht Werdens, ein Moment der Einheit, der mit jedem meiner Worte und Erklärungen verblasst und verschwindet.

Kennen Sie auch diese Momente, in denen man nichts spricht und die fast unaushaltbar schön berühren? Momente, in denen wir spüren, wie verbunden wir sind mit einem Menschen,  Tieren  oder einer wunderbaren Landschaft? Momente , in denen Mann oder Frau sich ungetrennt erlebt, ganz eins. Ich liebe diese Momente, ohne Worte, einfach Da-sein. Aber leider passiert es oft, dass wir dann zu reden beginnen, zu erklären, zu zählen, zu deuten, zu wissen; damit geraten wir in eine Distanz und verlieren den Augenblick. Der Dichter Rainer Maria Rilke hat ein solches Erleben in ein Gedicht gefasst:

 „Ich fürchte mich so vor des Menschen Wort.

Sie sprechen alles so deutlich aus:

Und dies heißt Hund und jenes heißt Haus,

und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern…..

Die Dinge singen hör ich so gern.

Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.

Ihr bringt mir alle Dinge um.“

 Auch Rilke wusste um diese Momente, die Geheimnis sind. In denen wir unmerklich in einen Raum treten, der immer schon da ist und verloren geht, wenn wir ihn zu fassen oder gar zu halten suchen. Erklären entzaubert. Aber ich weiß auch: Es ist unmöglich, dauerhaft in solchen Momenten zu bleiben.  Warum nur? Vielleicht, weil das Nachdenken,  das Deuten und Beschreiben eine Grundlage ist, eigenes Leben und Welt gemeinsam zu bereden und zu gestalten. Und wenn wir in den Augenblicken des Geheimnisses Glück und Erfüllung erleben, braucht es auch die Zeiten, über das Erfahrene zu sprechen und es gemeinsam zu nutzen. Eine solche Gemeinschaft ist wichtig, angesichts all der Bilder und Meldungen vom Schrecken, von der Angst und Gewalt in unserer Welt. Ich bin mir sicher: nur im gemeinsamen Wissen um die Tiefe des Lebens lässt sich Welt gestalten. Eine Welt, mit der ich mich innig verbunden weiß „mit allem, was da lebet“ , wie es so wunderbar in der Bibel heißt – das ist auch die Welt, in der ich immer wieder eingeladen bin, in Respekt, Wertschätzung und Dankbarkeit zu bleiben. So gut ich kann. Vielleicht den neuen Nachbarn gegenüber, die aus einem Land kommen, dass von Krieg zerrissen ist und mir deshalb Sorgen macht, wenn ich anfange, darüber nachzudenken. Oder wenn ich beim selbstverständlichen Griff zur Plastiktüte im Supermarkt die Hand zurückziehe und die teurere, aber umweltschonendere Papiertüte nehme.

Ich denke, Sie werden noch andere Gelegenheiten kennen, in denen sich unser Denken, Sprechen und Handeln allein aus der Erlebnis einer tiefen Verbundenheit und  Gemeinschaft  verändert und neu ausrichtet. Für dieses Jahr wünsche ich Ihnen viele solcher Erfahrungen.