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Auch nicht schlecht

Die Melodie ist auch nicht schlecht. Sagt meine Frau. Der Tonfall verrät: Klingt wie ein Kompliment, ist aber keins. Sie will mir sagen: Sie ahnt, was ich gerade singen will. Nur hat eben ihrer Ansicht nach meine Melodie allenfalls eine leichte Ähnlichkeit mit der richtigen. Weil sie mich trotzdem gut leiden kann, sagt sie nicht: Du singst falsch, sondern augenzwinkernd: Die Melodie ist auch nicht schlecht.

Wobei ich mich frage: Habe ich falsch gesungen oder sie falsch gehört? Hat sie Recht oder ich? Keiner von uns? Oder gar aus ihrer jeweiligen Sicht beide? Solange es um ein belangloses Liedchen geht, kann man die Geschichte vergessen. Aber mir kommt es im Augenblick so vor, als wäre im Großen wie im Kleinen die große Rechthaberei auf dem Vormarsch. Nichts gegen Gedankenaustausch und Wettstreit der Ideen, wenn Raum bleibt für die Erkenntnis: Auch andere könnten im Recht sein. Und selbst wenn nicht, ist das kein Grund zum Streiten.

Denn ganz egal, welche Instanz zur Rechtfertigung und Bekräftigung angerufen wird, der Weltfrieden, die Freiheit, die unumstößliche Richtigkeit einer politischen Idee oder bestimmten Religion: Tatsächlich geht es doch allzu oft nur um schlichte menschliche Rechthaberei und Wichtigtuerei. Wer von dieser Krankheit befallen wird, ist blind für eine wichtige Erkenntnis, nämlich: Was er zur Wahrheit erklärt, ist zunächst mal nur seine Wahrheit. Andere haben vielleicht eine ganz eigene.

Ich bin überzeugt: Hätte Gott gewollt, dass alle Menschen gleich sind, hätte er sie nicht so verschieden geschaffen. Andere haben ihre Lebensmelodie. Wenn ich die mit Verstand und Herz anhöre, könnte ich vielleicht erkennen: Die Melodie ist nicht meine, aber: Die Melodie ist auch nicht schlecht.