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Anstand – mehr als Knigge

Von dem Radrennfahrer Jan Ullrich weiß man vor allem, dass er jahrelang gedopt und das ebenso lange bestritten hat. Dass er ganz andere Qualitäten hatte, geht dabei fast unter.

Bei der Tour de France 2003 z. B. stieß der führende Lance Armstrong mit dem unmittelbar nachfolgenden Fahrer zusammen; beide fielen zu Boden. Jan Ullrich, der zur gleichen Spitzengruppe gehörte, lag zu diesem Zeitpunkt nur 15 Sekunden hinter Armstrong zurück. Er hätte nun den Unfall nutzen können, um diese Zeit aufzuholen und vielleicht später sogar als Sieger durchs Ziel zu gehen. Wenn er einfach weitergefahren wäre.

Das tat er aber nicht. Er hielt selbst an und wartete, bis die beiden gestürzten Konkurrenten weiterfahren konnten. Lance Armstrong seinerseits nutzte die Situation daraufhin aus und zog das Tempo enorm an; der irritierte Ullrich konnte nicht mithalten. In gewisser Weise wurde er so Opfer seiner Fairness.

Jan Ullrich hatte darauf verzichtet, das Pech seines Gegners zum eigenen Vorteil auszunutzen. Er wollte den Kampf unter den gleichen Voraussetzungen führen. Das war ihm wichtiger als der Sieg.

Das ist nicht nur „fair“. Das ist anständig. Aber nicht im Sinne eines Anstands gemäß des häufig zum Überdruss zitierten Freiherrn von Knigge. Dem verdanken wir u.a., dass man Fisch nicht mit dem Messer essen darf.

Nein, ich meine „Anstand“ eher in dem Sinne, dass man Rücksicht nimmt auf andere, und zwar auch dann, wenn einem gerade nicht unbedingt danach zumute ist. „Er ist wie du“ begründet die Bibel das Gebot „Liebe deinen Nächsten“! Anstand ist eine Form der Nächstenliebe.