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Alles wird aufgehoben

An meinem Weg zur Autobahn steht ein altes Haus. Wobei – viel von diesem Haus steht nun schon gar nicht mehr. Ein paar Wände, eine Tür, zwei Fenster sind noch übrig. Lange war das anders. Lange stand es einfach nur so da, unbewohnt. Die seltsame Veränderung hab‘ auch ich erst nach Monaten bemerkt. Langsame Dinge brauchen Zeit, bis sie in den Blick geraten.

Das Haus an meinem Weg – das ist so ein saarländisches Straßenhaus. In einem dieser Straßendörfer, die irgendwo anfangen und irgendwo aufhören, und dort, wo die Kirche steht, da gab es einmal eine Mitte. Kein saarländisches Straßenhaus ist wie das andere. Gerade darin sind sie sich so ähnlich. Kleine Dächer über dem Kopf in ungleichmäßiger Reihe vorn an der Chaussee. Hintenraus lange Gartenstreifen, aus denen sich die Menschen einst selbst versorgten. Diese Häuser hat kein Architekt gezeichnet. Diese Häuser zeichnete das Leben.

So wurden die meisten auch mit den Jahren mehrfach umgebaut, aufgestockt und renoviert. Bis auf eben jenes.

Vielleicht hat man einfach den Moment verpasst, mit der Zeit zu gehen. Und später starben seine alt gewordenen Bewohner. Erblindete Scheiben zeugen vom langen Warten auf bessere Zeiten.

‚Jetzt verfällt es‘, denke ich eines Tages. Es fehlen ein paar Dachziegel. Erst nur wenige, dann immer mehr. Nach und nach verschwinden Lattung, Sparren und schließlich auch die Balken. Aber nichts ist eingestürzt. Kein Chaos zeugt von Verwahrlosung. Irgendwann verstehe ich: Hier arbeitet ein Mensch! Ziegel für Ziegel, Balken für Balken, Stein für Stein – baut er das Haus zurück. Von Hand, so wie es einst erbaut wurde.

Zeit spielt dabei offensichtlich keine Rolle. Manchmal tut sich monatelang nichts auf der Baustelle. Dann warte ich schon auf den Bagger, der den Rest in Stunden abräumen könnte. Aber das passiert nicht! Seit bald sechs Jahren hat hier jemand jegliche Geduld der Welt, langsam abzutragen, was andere einst zusammentrugen. Alles wird aufgehoben.

Das beeindruckt mich. Dieses jahrelange Stückwerk hat etwas von Meditation. Ich fahre immer nur vorbei und bin doch ganz eingenommen vom langsamen Fortschritt im Rückschritt. Was wird es wohl dem Menschen bedeuten, der immer wieder daran schafft?

So wie ein Haus dem Leben eine Heimat gibt, so wird es manchmal selbst zum Bild des Lebens. Wer weiß, vielleicht ordnet hier ein Mensch die Statik seines eigenen Daseins, indem er aufhebt, was seinen Großeltern einst Geborgenheit gab. Wieviel gelebtes Leben steckt in jedem Nagel, der hier einst verbaut wurde?

Und dann denke ich an mein eigenes Lebenshaus. Es könnte auch an so einer saarländischen Dorfstraße stehen und die Jahrzehnte an sich vorüberziehen sehen. Noch ist es nicht so alt. Noch wird es gut bewohnt. Doch die Jahre des Aufbaus sind vorbei. Immer öfter wird nun umgestaltet, ausgebessert, renoviert. Wann kommt der Moment, an dem sich nicht mehr lohnt, eine neue Heizung einzubauen, ein neues Dach zu decken?

Noch ist es nicht so weit, aber irgendwann fahre ich nicht mehr hier entlang zur Autobahn. Was soll dann bleiben?

Wenn ich mir von Gott etwas wünschen darf, dann hätte ich gerne, dass er sich einst meiner Geschichte so annimmt, wie der Mensch, der das Haus an meinem Weg zurückbaut.

Ich wünsche mir, dass Gott mit Geduld in seine Hände nimmt, was mir einst bedeutsam war. Ich hoffe auf einen Gott, der versteht und würdigt, was gedacht und geschafft und geliebt wurde. Alles wird noch einmal aufgehoben, mehr Ewigkeit muss gar nicht sein.

Und wenn der letzte Stein beiseitegelegt ist, dann darf auch gerne gelten, was schon in der Bibel steht: der Wind geht darüber hinweg, und ihre Stätte kennt sie nicht mehr.