Loslassen und Annehmen
Kinder träumen noch, dass sie fliegen können. Ohne Flugzeug. Einfach so. Arme ausbreiten und hoch, immer höher. Der Atem wird frei, die weite Sicht ist umwerfend. Wer älter wird, träumt sich seltener fliegend. Schließlich hört der Traum vom Fliegen ganz auf.
Kinder haben diese naiv-umwerfende Sicht auf ihr Leben: alles ist möglich, selbst das Fliegen, ich kann alles werden, ein tolles, aufregendes unendlich langes Leben liegt vor mir.
Wer erwachsen wird, der lernt auf dem Teppich zu bleiben. Für den Pilotenschein fehlt das Geld. Und beim Treppensteigen geht die Luft aus. Das Leben ist endlich. Gewisse Entscheidungen für sein Leben kann man nur einmal treffen – und muss die Folgen annehmen. Auch die verpassten Chancen, die es nur einmal gab.
Irgendwann, früher oder später, begegnet einem der Tod.
Ich kann mich noch gut an meinen untröstlichen Schreck erinnern, als mir – noch Kind – klar wurde: wenn alles seinen von Gott gewollten Gang geht, dann werden meine Eltern sterben. Und ich werde das vermutlich erleben.
Ich kann mich auch noch erinnern, was mein Vater sagte, als ich ihn dann nach einem „Danach“ gefragt habe. Er sagte: „Ich weiß es nicht“.
Einem Pfarrer begegnet der Tod fast wöchentlich. Oft mehrfach. Ich schaue ihm ins Gesicht, manchmal bei einem Kranken, oft bei Angehörigen, die stammelnd von ihm erzählen.
Dann reden wir, wie es war, das Sterben. Und immer wieder dann auch, wie es war, das Leben. Welches Leben da losgelassen werden, welches Sterben angenommen werden muss. Manchmal gelingt das Loslassen und Annehmen überhaupt nicht. Dann merke ich, wie der Mann mir gegenüber immer und immer wieder die vermeintlichen oder wirklichen Fehler der Ärzte seiner Frau auflistet, sich verhakt in Krankengeschichten, Behandlungsalternativen – letzten Strohhalmen, die doch längst zerbrochen sind.
Lehre uns bedenken, dass auch wir einmal sterben müssen, auf dass wir klug werden. Den Satz aus der Bibel sage ich dann bei der Trauerfeier. So bitten Christen Gott.
Dahinter steht die unerbittliche Frage:
„Was machst du, Mensch, mit der dir gegebenen begrenzten Zeit? Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens!“
Und schütte später Erde auf den Sarg.
Ja, wir versuchen klug zu werden: was war, was ist, was wird. Angesichts des Sterbens.
Die Kirchen bieten Rituale an. Die versuchen, das Annehmen und Loslassen von dem, was war, ist und wird, zu gestalten. Bei der Trauerfeier, am Grab, im Jahresgedächtnis, an Allerseelen, am Totensonntag. Totensonntag ist morgen.
Vom Blick in die Vergangenheit, auf die Menschen, die einmal mit lebten und jetzt tot sind, geht der Blick zur Gegenwart, auf Trauer über diesen Verlust und was mit den Lebenden, jetzt ist und sein wird.
Und wenn es gelingt, dann lassen wir gemeinsam beim Erinnern los, werden leichter und träumen ein wenig, erinnern uns daran, dass – wenn wir nur wollen und uns trauen – alles möglich ist. Wie das Fliegen, damals im Traum, als Kind.
Im Johannes-Evangelium sagt Jesus:
Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich! In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn’s nicht so wäre, hätte ich dann zu euch gesagt: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten? Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, damit ihr seid, wo ich bin.