Inge ist unzufrieden

Inge ist unzufrieden. Als ich sie besuche, schimpft sie über ihren jüngeren Enkel. „Ich rufe ihn an, aber meinst du, er kommt dann?“ Sofort – meinst du wohl. Aber das denke ich nur. Den älteren Enkel lobt sie über alles. Der würde ja kommen, aber er wohnt doch so weit weg. Da geht ein Besuch nur ein paar Mal im Jahr.
Ein wenig verstehe ich sie schon. Mit ihren 94 Jahren ist sie ziemlich eingeschränkt. Einfach mal mit dem Bus in die Stadt fahren, das geht nicht mehr. Dabei hat sie es doch gar nicht so schlecht getroffen. Sie wohnt in einer sehr schönen Dachgeschosswohnung mit einem wunderbaren Blick auf ein schönes Tal in einer Anlage für betreutes Wohnen. Im Haus und drumherum kann sie noch ziemlich mobil sein mit ihrem Rollator. Aber: früher sind alle gesprungen, wenn sie etwas wollte. Auf ihrer Arbeit war sie Abteilungsleiterin, und daheim machte ihr Mann alles. Bis er starb. Dann übernahm ihr Sohn das. Wenn sie einkaufen wollte, kam er. Wenn sie noch etwas brauchte – ein Anruf genügte. Das passte ihrem Sohn zwar nicht immer, aber er kam. Doch dann starb auch er. Krebs. Das war für sie ein schwerer Schlag. Aber sie hat ja noch ihre Enkel. Die unterstützen sie natürlich. Und sie ist ja auch nicht allein. Der Pflegedienst kommt, zweimal wöchentlich geht sie in die Tagespflege. Und am Mittwochabend spielt sie mit anderen Bewohnern Karten. Mittagessen kann sie auch im Haus, wenn sie das will. Doch das meiste schafft sie noch selbst.
Aber was macht sie so unzufrieden? Der jüngere Enkel erzählt, dass sie das früher auch oft war. Aber da gab es Menschen, die ihr jeden Wunsch erfüllten. „Nun muss sie auch mal warten“, sagt er.
Was macht uns zufrieden? Das frage ich mich da tatsächlich. Wahrscheinlich ist es eine Lebenseinstellung, die man am besten dann lernt, wenn es einen gut geht. Ob Inge das noch lernt? Ich weiß es nicht, aber ich wünsche es ihr von Herzen.