Der Ton macht die Musik

Meine Nachbarin singt. Jeden Tag. Schlager, Kirchenlieder, Pop-Musik. Ganz egal. Manchmal auch alles wild durcheinander. Und dabei singt sie sogar dreistimmig: Nämlich viel zu laut, völlig schief – aber mit absoluter Begeisterung. Am Anfang hab‘ ich das ziemlich schrullig gefunden. Und mit der Zeit einfach nur noch nervig. Wenn sie losgelegt hat, dann habe ich einfach das Fenster zugemacht, die Augen verdreht oder den Fernseher lauter gestellt.
Einmal haben wir uns am Gartenzaun unterhalten. Und ich habe vielleicht ein wenig schnippisch gefragt, ob sie denn für „Deutschland sucht den Superstar“ probt. Sie hat mir dann erzählt, dass Ihr Mann schon vor ziemlich langer Zeit gestorben ist. Und sie die Stille im Haus nur schwierig aushalten kann. Singen hilft ihr. Vor allem gegen das Alleinsein.
Ein paar Stunden später war es dann wieder soweit. Ich habe gerade auf der Terrasse gesessen und Kaffee getrunken, als meine Nachbarin in ihrem Wohnzimmer wieder losgelegt hat. Und was soll ich sagen: Es war furchtbar. Aber diesmal habe ich da noch etwas anderes hören können. Schmerz. Freude. Trost. Hoffnung. All die schiefen Töne eines gelebten Lebens.
In der Bibel heißt es: „Ich will dem Herrn singen mein Leben lang“. Da steht nichts von „schön“ oder „richtig“, sondern einfach: singen. So wie einem der Schnabel gewachsen ist. So, wie es das Herz gerade braucht. Meine Nachbarin macht das genau richtig. Und ich summ jetzt sogar manchmal mit. Nicht weil es so schön ist – sondern weil ich selten ein ehrlicheres Lied gehört habe.