Wahlwerbung
Der Mann im dunklen Anzug mit Krawatte meint es gut mit mir. Genauso wie die Frau im altrosafarbenen Kostüm. Zumindest wollen beide mir diesen Eindruck vermitteln. Sie gucken mich von großen Plakaten an und werben um meine Gunst: „Bürokratie abbauen, Obst anbauen“, verspricht der Mann, dessen Kopf eine Birne, dessen Nase eine Erdbeere und dessen Augen zwei Heidelbeeren sind. „Erststimme: Frisch, Zweitstimme: Günstig“, sagt die Frau. Ihre Haare bestehen aus Weintrauben, ihre Brille aus Kiwischeiben und die Nase aus einer halben Banane.
Eine Discounter-Kette hat gerade eine Kampagne mit skurrilen Obst – und Gemüseköpfen gestartet. Die Plakate wirken wie besonders bunte Wahlwerbung mit typischen Politikerslogans. Als ich sie zum ersten Mal gesehen habe, musste ich zweimal hingucken, um zu erkennen, ob es wirklich eine neue Wahlwerbung ist oder nicht. Kein Zweifel: Die Plakate sind ein echter Hingucker. Auch, weil sie oft ganz nah bei echten Wahlplakaten hängen. Das erhöht den Aufmerksamkeitseffekt und deshalb – so die Hoffnung – auch den Umsatz. Klar, das ist ja Sinn und Zweck von Werbung. Zumindest, wenn ein wirtschaftliches Unternehmen sie in Auftrag gibt. Und so kurz vor der Bundestagswahl die vertraute Wahl-Werbung auf die Schippe zu nehmen, um so mehr Geld zu verdienen – das ist doch originell. Oder nicht?
Bei der Wahl in zehn Tagen geht es um eine wichtige und ernstzunehmende Sache. Aus mehreren Parteien frei und gleichberechtigt wählen zu dürfen ist das Kennzeichen der Demokratie. Dazu gehört auch der Wahlkampf mit Reden, Fernsehauftritten oder mit Plakaten am Straßenrand. Klar, manche Wahlplakate mag ich langweilig oder aussagelos finden, manche der Sätze darauf falsch oder unwichtig. Aber trotzdem sind sie Teil eines hohen Guts, das wir in unserem Land genießen dürfen: Wir selbst dürfen die Politiker wählen, die unser Land regieren. Das ist nicht selbstverständlich. Das ist ein Segen. Einer, den nicht jede und jeder hat. Denn freie und gleiche Wahlen gibt es längst nicht in allen Ländern.
Echte Wahlwerbung auszunutzen, nur um damit den Profit seines Unternehmens zu steigern – das ist nicht, wie es in der Kampagne heißt, frisch und günstig. Das ist in erster Linie: Billig!