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Millimeter-Geschichten

Bilder und Berichte von Krieg, Verfolgung und Unterdrückung, die sieht und hört auch sie, fast jeden Tag seit über fünf Jahren. Erzählungen von Verlust, zerstörten Lebensträumen und gestohlener Jugend. Meine Freundin ist Seelsorgerin in einer Einrichtung für alte Menschen und Menschen mit Unterstützungsbedarf.

Diese Menschen geben ihr Anteil an ihren Lebensgeschichten, ihren Überlebensgeschichten. Und oftmals, da ist sie mittendrin, mit hineingenommen in die Schützengräben des Lebens. Da, wo sich Abgründe auftun, Verletzungen und Narben entstehen, die ein Leben lang davon erzählen, ob man will oder nicht. In der Zeit der Lockdowns war sie teilweise die Einzige, die noch am Bett sitzen und die Hand eines sterbenden Menschen halten konnte.

Ich habe sie gefragt, wie sie es schafft bei all dem trotzdem eine lebensfrohe Frau zu sein. Und sie hat mir von ihren Geschichten erzählt. Millimeter Geschichten, so nennt sie sie und hat die Idee von Ulrich Bach übernommen.

Millimeter Geschichten beschreiben kleine Geschichten, die erden und doch auch Flügel geben. Geschichten, die berühren und die Sonne durchscheinen lassen, wenn auch nur für einen kleinen Moment. Millimetergeschichten sind kleine Geschichten, die sie in ihrem Alltag mit den Bewohnerinnen und Bewohnern erlebt. Manchmal nur ein Wort oder eine Geste, die sie aus der Rückschau betrachtet und für sich aufschreibt.

Ich durfte sie lesen. Sie kamen mir vor, wie die Spuren Gottes im Garten: Du musst sehr genau hinschauen, aber wenn du sie erkennst, dann geben sie unendlich viel Kraft.

Wie die Geschichte einer Frau mit geistigen und motorischen Einschränkungen. Einmal suchte die halbe Einrichtung samt Polizei Hundestaffel und Feuerwahr sie die halbe Nacht lang. Als man sie auf dem Dachgarten fand, war sie selig: So viel Zeit, dem geliebten Mond nah zu sein. „Millimeterweise kommt sie einer größeren Sicht der Dinge näher“, sagt meine Freundin, ohne die konkreten Herausforderungen und schwierigen Situationen der Gegenwart aus den Augen zu verlieren. Ja, ich glaube sogar, dass sie durch die Millimetergeschichten besser damit umgehen kann.

Das Buch mit diesen Geschichten gibt es nirgends zu kaufen, jede und jeder kann und muss es wohl auch selber schreiben. Meine Freundin ist sich sicher: „Ich bin an den Geschichten, die mir begegneten, gewachsen, Millimeter für Millimeter.“

 

Sie können das Video zum Beitrag unter der folgenden Adresse anschauen:

https://www.sr-mediathek.de/index.php?seite=7&id=114191