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Keine Zeit

Keine Zeit – das höre ich in diesen Tagen überall. Die Adventszeit scheint in diesem Jahr so kurz wie nie zu sein. Am Sonntag ist schon dritter Advent und am vierten ist Weihnachten schon fast wieder vorbei. Da bleibt ja gar keine Zeit zum Geschenke besorgen, zum Putzen und um Glühwein auf den verschiedenen Weihnachtsmärkten zu trinken.

Keine Zeit, höre ich und sage es allenthalben selber, wenn jemand noch eine Weihnachtsfeier oder einen anderen Termin dazwischenschieben will. Und ich erinnere mich gerade beim Blick auf die Zeit an den Heiligen Abend meiner Kindheit. Bei meinen Großeltern in der guten Stube. Es war nicht der leuchtende Weihnachtsbaum – groß und imposant –, der mich als kleines Mädchen verzauberte, oder der festlich gedeckte Tisch, sondern die alte Standuhr. Schräg hinter dem Baum an der Wand stand sie. Ihr hin und her schwingendes Pendel zog mich magisch an. Und ich habe es immer ein paar Minuten geschafft, nur zu schauen, bis – ja, bis ich beherzt hineingriff und das Pendel angehalten habe. Vielleicht wollte ich schon damals die Zeit anhalten, damit der Heilige Abend ewig dauern würde, vielleicht wollte ich aber auch nur einmal im Jahr etwas Verbotenes tun. Mein Opa fand das gar nicht witzig und meine Oma hat trotz Weihnachten mit mir geschimpft. Alle Jahre wieder.

Seit dem Tod meiner Großeltern steht die alte Standuhr in meinem Wohnzimmer und was soll ich sagen, das Pendel schwingt schon lange nicht mehr. Ich glaube, ich habe es nicht einmal bewusst angehalten, sondern einfach versäumt, die Gewichte hochzuziehen. Und die Zeit ist trotzdem nicht stehen geblieben. Sie rast unaufhaltsam weiter. Wenn ich mir meine Standuhr heute so anschaue, denke ich: Gerade jetzt wäre die Zeit, das Pendel anzuhalten. Gerade jetzt brauchen wir mutige Frauen und Männer, die eingreifen und sich dem Hass und dem Krieg in der Welt entgegenstellen. Gerade jetzt brauchen wir Menschen in allen Ländern der Welt, die den Frieden suchen. Gerade jetzt brauchen wir widerständige Kinder, die sich für das Klima einsetzen. Gerade jetzt brauchen wir die Weihnachtszeit, damit sie Ruhe und eine gute Nachricht dem Getöse der Welt entgegenflüstert. Jetzt – gerade jetzt ist die Zeit, zu lieben und zu leben, als wenn Frieden möglich wäre und Gott kommt.

 

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