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Ein Riss

Ein Riss geht von ganz oben bis ganz unten durch die braune Kirchenwand im Altarraum. Direkt durch das auf die Wand gemalte Bibelzitat: Christus spricht: Daran wird man erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt.

Die alte Dorfkirche hat schon viele Jahre durchgehalten und auch so einige Erschütterungen überstanden. Erst war sie katholisch, jetzt evangelisch. Und nun wird sie immer weniger besucht.

„Den Riss gibt`s schon immer!“ erzählt mir die befreundete Pfarrerin.

Immer wieder hat man versucht, ihn zuzuschmieren, seine Kontur ist dennoch bis in die letzte Bank zu sehen, quer durch die Wörter „man“ und „Liebe“.

Je länger ich im Gottesdienst in der unbequemen Kirchenbank sitze und auf den Riss schaue, desto mehr erscheint er mir als ein Sinnbild für die momentane Situation. Der Kirche und unserer Gesellschaft überhaupt.

Ein Riss zwischen dem verkündigten Reich Gottes und der momentanen Realität. Ein Riss zwischen hochverbunden und kirchenfern. Ein Riss zwischen ersehnter, guter Botschaft und den Fakenews unserer Tage. Ein Riss zwischen arm und reich, rechts und links, oben und unten. Und ich sehe den Versuch, den Riss einfach zu überpinseln, was immer nur Symptome übertüncht, aber nicht die Ursachen ins Auge fasst. Zuschmieren hilft da nicht. Eher freilegen.

Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, dass es auch gar nicht nur zwei Seiten gibt, sondern immer mehrere Positionen. Und Vieles ist irgendwo dazwischen. Gar nicht mal scharf voneinander abgetrennt.

Als ich die kleine Dorfkirche nach dem Orgelnachspiel verlasse, merke ich, dass der Riss mir heute eine Sehhilfe ist. Eine Mahnung genau hinzuschauen. Zu unterscheiden und dort, wo ich etwas nicht kitten kann, wenigstens durch meine Liebe zu zeigen, zu wem ich gehöre.

 

Hier der Link zur Mediathek: https://www.ardmediathek.de/video/aus-christlicher-sicht/aus-christlicher-sicht-27-07-2023/sr/Y3JpZDovL3NyLW9ubGluZS5kZS9BQ1NfMTMwMTMy