Beiträge

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Anni (so hieß sie natürlich nicht) war Krankenschwester und ich Seelsorger im selben Krankenhaus. Eine Intensivschwester. Keine von der sanft einfühlsamen Art. Eher ein bisschen Schwester Rabiata, wie man im Klinik-Jargon frotzelt.

Aber Anni war erfahren. Eine von denen, die der jungen Assistenzärztin widersprechen und diese damit manchmal vor einer Fehlentscheidung bewahren. Anni kannte alle gravierenden internistischen Krankheitsbilder, die regelhaften Verläufe wie die möglichen Komplikationen. Sie war klein, dünn, zäh und belastbar und unter ihrer rauen Schale äußerst lebensfroh. Mit Freundinnen es mal krachen lassen, Crémantchen trinken, diesen Ausgleich zum extrem belastenden Alltag im Dreischicht-Betriebs einer Intensivstation, das wusste sie sich zu gönnen.

Doch dann traf sie der Blitz aus heiterem Himmel. Eine Diagnose, bei der Klinik-Menschen die Augen weit aufreißen. Infaust heißt das dann; sprich aussichtslos, tödlich. Von diesem Zeitpunkt an läuft die Uhr nur noch rückwärts. Und wenn das eine wusste, dann Anni. Man hätte damit rechnen können, dass sie – mit all dem theoretischen Wissen, aller Erfahrung – sich aufgibt und kapituliert.

Weit gefehlt. Anni setzte das Steuer ihres Lebensschiffs, das deutliche Spuren von Havarien aufwies, vielleicht manchmal bereits auf Grund gelaufen war, auf ‚Kurs Hoffnung‘.

Aus jedem Arztgespräch filterte sie das Positive und wandte den Blick nach vorne. All die niederschmetternden Erfahrungen eines langen Berufslebens am Hochofen der Medizin verschwanden wie in einem Schwarzen Loch.

Und ich, der Diplom-Rationalist und graduierte Pessimist, stand staunend daneben. Man konnte nur bewundern, wie sie sich an den Mast ihrer irrationalen Hoffnung klammerte und lebte. Sie ließ dem Teufel der Resignation keinen Quadratzentimeter ihres Lebensareals kampflos. Es war eine Freude, mit Anni in der Kantine zu speisen. Die mit ihrer Krankheit in der Regel einhergehende Appetitlosigkeit hatte sich scheinbar in das Gegenteil verkehrt.

Ich denke, es war die unbändige Krafft ihrer Hoffnung, die Anni noch für eine geraume Zeit Leben bescherte, das auch den Namen verdient, mit Qualität und Freude. Einen nicht unerheblichen Einfluss dabei hatten ihre Freundinnen (wie sind die Frauen uns Männern da voraus …).

Diese waren jederzeit ansprechbar und kümmerten sich. Die eine vielleicht mehr um das seelische Wohlergehen, die andere um 1000 bürokratische Dinge, und sind die aus dem Kreuz, fördert auch das das seelische Wohlergehen.

Natürlich war Anni kein Wunder beschieden. Irgendwann entfaltete die Erkrankung ihre unbändige Kraft. Der Wechsel ins Hospiz war alternativlos. Und auch dort war sie von den Freundinnen begleitet, mit denen sie hunderte von Schichten auf der Intensivstation abgeleistet hatte. Die riefen uns Seelsorger hinzu, und in ökumenischer Eintracht nahmen wir Abschied von einer vielleicht nicht frommen aber großen Seele.

Von ihr habe ich viel über die Kraft der Hoffnung gelernt. Sie kann heilsame Kräfte freisetzen und das Unheil aufhalten. Aus der Welt schaffen kann sie es nicht.

Lässt sich eine solche Hoffnung einüben? Ich weiß es nicht. Menschen wie Anni ist sie geschenkt. Und Menschen, die in die andere Richtung gestrickt sind, wie ich einer bin, tun sich vielleicht einen Gefallen, ihren Pessimismus mit nicht allzu viel Hingabe zu pflegen.

Wie schreibt Paulus: Diese Hoffnung aber geht nicht ins Leere.