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Der Mann mit der Decke

An einem Mittwochnachmittag im Hauptbahnhof. Ich komme aus der Schule, in der ich unterrichte, und freue mich auf den Feierabend. Etwas Schönes kochen und essen, den Unterricht für morgen vorbereiten, dann die Füße hochlegen und die freien Stunden genießen – was für eine schöne Aussicht.

Da sehe ich ihn. Ich will gerade die Treppe zum Nordausgang hoch, da sehe ich den Mann an der anderen Treppe. Er packt etwas aus einer Tasche aus und ich denke mir: „Das sieht aber ziemlich armselig aus.“ Ich gucke noch einmal genauer hin – aber nein, er packt nicht seine Habseligkeiten aus, sondern eine Decke und rollt sie vorsichtig auf dem Fußboden aus. Dann stellt er sich darauf.

Ich bleibe nicht stehen, gehe weiter. Nur aus dem im Augenwinkeln kann ich erkennen, dass der Mann sich auf die Decke kniet und– so scheint es mir – die Augen zum Gebet schließt. Gern würde ich genauer zusehen. Aber ich finde es unangemessen, zu ihm hinzustarren. Wie er da kniet und betet! Ganz selbstverständlich, in Ruhe, ohne dass ihn andere zu stören scheinen.

Ich bin von der Szene fasziniert. Da betet einer an einem Ort, an dem ich nicht damit gerechnet habe. Da lebt einer seinen Glauben und es scheint ihm egal, ob andere sich darüber lustig machen, befremdet sind oder gleichgültig. Ihm ist es wichtig, zu dieser Stunde, an diesem Ort.

Traue ich mich das auch, das in aller Öffentlichkeit zu tun, was mir wichtig und ein Herzensanliegen ist?