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Baum in der Mitte

In der Mitte des Gartens stand ein Baum, ein riesengroßer Kirschbaum. Im Frühsommer waren seine Früchte zuerst reif. Wir Kinder sind nur an die unteren Äste drangekommen, bis der Opa eine Leiter in den Baum gestellt hat. Im Sommer war der Baum ein beliebter Schattenplatz. Jede Sommerferien haben wir bei den Großeltern verbracht, vor allem im Garten. Unser Leben in diesem Paradies wurde nur durch die Rufe meiner Oma zum Essen unterbrochen.

In der Mitte des Gartens stand ein Baum. Aber im Paradies, wie es zu Beginn der Bibel beschrieben wird, stand kein Kirschbaum, sondern der Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Die Geschichte, erzählt davon, warum der Mensch nicht mehr im Paradies lebt.

Gott sagt zum Menschen: „Von diesem Baum sollst du nicht essen!“

Die Schlange sagt zum Menschen: „Gott will nur nicht, dass du wirst wie er!“

Der eine Mensch sagt zum anderen Menschen: „Ich probier‘s einfach mal! Probier´ Du´s doch auch!“

Die Weisheit zu wissen, was lebensförderlich ist und was nicht, ist schon verlockend. Schließlich essen beide Menschen – da wurden ihnen die Augen aufgetan – und sie haben das Paradies verloren. So steht es in der Bibel.

Ich frage mich, ob die Menschen beim Auszug aus dem Paradies die Erkenntnis eigentlich behalten haben? Wenn ich mich heute umschaue, dann frage ich mich: Ist die Wirkung vielleicht schon verflogen, weil wir sie zwar gegessen, aber nicht verinnerlicht haben?

Oder will uns die alte Geschichte einfach daran erinnern, dass die Menschen die Erkenntnis des Guten und Bösen eigentlich schon besitzen und sich endlich wieder darauf besinnen sollten?

Mein Opa und meine Oma sind schon lange tot. Haus und Garten sind verkauft. Geblieben sind die Fragen, die Sehnsucht und die Erinnerung an einen Baum in der Mitte des Gartens.