Roter Faden

„Den roten Faden lasse ich aber gerade noch da!“, sage ich an der Kasse des Bekleidungsgeschäftes und versuche, den roten Faden von meiner neuen rosa Bluse zu schnippen. Er ist vielleicht drei Zentimeter lang und sticht geradezu in mein Auge. Der gehört da wirklich nicht hin, und ich sehe gar nicht ein, dass ich den mit nach Hause nehme. „Obwohl ein roter Faden ja eigentlich nie schlecht ist!“ Die Kassiererin verfolgt lächelnd, wie ich versuche, den widerstrebenden Faden zu entfernen. „Da haben sie natürlich Recht!“ Ich schaue ihr ins Gesicht und wir lächeln uns an. Ich glaube, dass wir beide in diesem Moment an die vielen roten Fäden unseres Lebens gedacht haben.
Meine Familie etwa, aus der ich komme, und die, die ich selbst dazu gewebt habe. Sie haben mich geprägt, mir sozusagen die Farbe gegeben. Vieles habe ich mitgenommen an Art und Struktur und den vorgefundenen Faden weitergesponnen. Und manchmal sagen es mir meine Kinder auch: Da bist du genau wie die Oma. Und einmal ist das ein Kompliment – und einmal eher nicht.
Oder der rote Faden in den vielen Predigten, die ich geschrieben oder gelesen habe. Manchmal kann ich ihm gut folgen. Und manchmal ist er so dünn, dass man keinen ordentlichen Gedanken daran anknüpfen kann, ohne dass er sofort zerreißt. Und manchmal ist gar keiner da, wurde er vielleicht vorher weggeschnippt von der Predigt, noch nicht mal drei Zentimeter lang.
Und wie die Kassiererin so meine Bluse und die anderen Kleider in die Papiertüte einpackt, denke ich, dass mein roter Lebensfaden ein Teil von Gottes großem Strickzeug ist. Dass ich eingewoben bin, dass mein Faden mit vielen anderen Fäden verknüpft ist.
Als ich gehe, sehe ich, dass mein roter Faden noch auf der Theke liegt und hoffe, dass er der nächsten Kundin vielleicht genauso schöne Gedanken schenkt.