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Engel

Eigentlich sollte die Frau schon gar nicht mehr leben. Die Ärzte hatten ihr nur noch bis Ostern gegeben – Darmkrebs im Endstadium. Und nun war es August. Die Monate, die Wochen, die Tage, ja diese Stunden waren geschenkte Zeit, eine Zugabe, das war ihr überaus klar und dieses Geschenk des Überlebens wollte sie feiern. Sie hat mich, ihre Pfarrerin, um ein Hausabendmahl gebeten. Und so hat sie ihre Schwestern, ihren Bruder und eine Freundin eingeladen, um alle, die ihr wichtig waren, um sich versammelt zu haben. Doch das Feiern war eher schwierig, denn der Tod selbst hat ja mit am Tisch gesessen. Bis, ja bis sie herein kam: Ein junge Frau. Und mit ihr ist nicht nur eine Freundin in den Raum gekommen, sondern auch ein Strahlen von besonderer Art.

Es war nicht ihr Aussehen, nicht die Kleidung, , die sie besonders machte, sondern ihr Lächeln, ihre glänzenden Augen, ihre liebevolle Zugewandtheit, die Wärme, die sie ausgestrahlt und die sofort den ganzen Raum erfüllt hat. Sie beugte sich über die vom Tode gekennzeichnete Freundin, strahlte sie an und hat sie umarmt. Und für einen Moment schien die Zeit für uns alle still zu stehen.

„So muss die Begegnung mit einem Engel sein!“, ist es mir durch den Kopf geschossen. Und Geschichten von Engelsbegegnungen aus der Bibel sind mir eingefallen. Zum Beispiel als Petrus in Jerusalem im Gefängnis saß und in dieser ausweglosen Situation mitten in der Nacht Besuch bekommen hat. „Und siehe, der Engel des Herrn kam herein und Licht leuchtete auf in dem Raum; und er stieß Petrus in die Seite und weckte ihn und sprach: Steh schnell auf! Und die Ketten fielen von seinen Händen.“  So heißt es in der Bibel.

Und auf einmal haben die alten Worten einen neuen Sinn für mich bekommen. In den Augen der Todkranken habe ich gesehen, wie die Ketten der Angst und des Todes für einen kurzen Moment abgefallen sind und sich im Glanz der Begegnung einfach aufgelöst haben. Nicht nur bei der Todgeweihten, sondern auch bei mir und den anderen. In diesem Glanz war es auf einmal möglich, das Leben, die geschenkte Zeit, zu feiern. Gott trotz allem für diese wertvolle Zeit zu danken und die Wärme in unseren Herzen zu spüren, obwohl der Tod mit am Tisch saß. Und ich glaube, in diesem Moment wurde selbst ihm warm.