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Mut zur Lücke

„Beim Aussteigen bitten wir um Beachtung des Höhenunterschiedes zwischen Zugtür und
Bahnsteigkante“ so ertönt es aus dem Lautsprecher, als die U-Bahn hält. Kurz nachdenken: Was
wurde gesagt, worauf soll ich achten? Ach ja: „Beim Aussteigen den Höhenunterschiedes zwischen
Zugtür und Bahnsteigkante beachten“ Oha, welches Amtsdeutsch, denke ich! Wieviel
Deutschunterricht man wohl braucht als fremdländischer Bürger, um das zu verstehen?
Die Ansage in der Londoner U_Bahn gefällt mir viel besser: „Mind the gap“ Beachte die Lücke,
denk an die Lücke! Nämlich die, zwischen Bahnsteig und Zug. Ich muss schmunzeln. Nicht nur, weil
„mind the gap“ so viel schlichter und griffiger ist als die Anweisung in meiner eigenen Sprache,
sondern auch weil mir die Aufforderung an sich gut gefällt.

Nicht nur fürs Zugfahren, auch fürs Leben: Beachte die Lücke. So oft ist da eine Stufe, eine Spalte
zwischen dem, was ich gerade erlebe und dem, wie ich es mir wünschte, dass es wäre. Da steht ein
alter Mann am Sterbebett seiner Frau und sagt: „Im November wären wir 50 Jahre verheiratet,
aber ich glaub, das packen wir nimmer.“ Und ich stehe daneben und spüre den Schmerz einer
Lücke: Gern ist der Mann hier am Bett seiner Frau, seit der Arzt ihm gesagt hat, dass sie sterben
wird. Gern lässt er mich zu Gebet und Gespräch rufen, aber trotzdem kann er nicht begreifen, dass
er bald allein sein wird. Es ist die Liebe, die den Mann die Lücke zwischen Wahrheit und Hoffnung
überspringen lässt. Nicht nur schmerzlich, sondern auch schön: warm und herzlich, in aller
Traurigkeit und Ahnung. Mind the gap – welch wertvolle Lücke!

Anderes Beispiel: Da ist ein Fünfjähriger im Kindergarten, der unbekümmert seiner Mutter von der
Schaukel aus entgegenfliegen möchte. Bloß übersieht er dabei die Lücke zum Fußboden, also
bäuchlings im Sand landet und in den Schreck der Mutter hineinruft: „oh, ich dachte, ich wäre ein
Vogel“, dann ist es genau der Mut zur Lücke, der uns ob des Vertrauens des Jungen zum Lachen
bringt. Wieviel Lebendigkeit genau in den Lücken des Lebens – im Kleinen wie im Großen –
offenbar werden kann!
Mind the gap! Ich finde, auch Jesus könnte das gesagt haben. Beachte die Lücke zwischen Himmel
und Erde. Es ist nicht einfach, das Vertrauen auf Gottes im Alltag zu bewahren und solches
Gottvertrauen auch zu leben. Sieh auf mich, so höre ich Jesus sagen, ich habe es selbst erlebt, dass
da eine Lücke ist: auf der einen Seite die Sehnsucht nach der vollendeten Liebe und auf der
anderen Seite der harte, oftmals schmerzliche Lebenslauf – denk an die Lücke!

Dem liebenden Ehemann am Sterbebett seiner Frau wird es dann nicht unbedingt leichter, aber er
kann über den Schmerz des Abschieds hinaussehen: die gelebte Liebe, die die beiden verbindet,
wird die Lücke überbrücken helfen, sie wird Erinnerungen schenken, Wärme und Herzlichkeit im
Herzen lebendig bleiben lassen. Das wird ihm irgendwann ins Leben zurückhelfen.

Denk an die Lücke! Mind the gap! Das ist für das Zugfahren genauso wichtig wie für das Leben und
im Glauben: Der Glauben an unseren vollmächtigen Gott, der letztlich die Lücke zwischen Himmel
und Erde liebend überwindet, stellt uns nicht automatisch in ein lückenloses Leben ohne
Schmerzen und Sorgen. Aber indem Jesus genau solche Lücken nicht übergeht, stärkt er uns den
Mut, voller Vertrauen so manche Lücke zu überwinden – nicht nur die an der Bahnsteigkante!